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Reichskanzler Brüning„Mein Leben in Köln ist Zeitverschwendung“

Lesezeit 5 Minuten

Am 15. Juli 1930 hält Reichskanzler Heinrich Brüning eine Rede im Reichstag.

  1. In unserer Serie „Spurensuche“ stellen wir Personen und ihre Zeit in Köln vor, Orte ohne Gedenktafeln.
  2. Anselm Weyer widmet sich dem ehemaligen Reichskanzler Heinrich Brüning.

Köln – „Der Anblick Kölns von der anderen Rheinseite aus ist gespenstisch“, berichtet der ehemalige Reichskanzler Heinrich Brüning im August 1948. „Ich finde nicht die richtigen Worte, um diesen Eindruck wiederzugeben“. Unterkommen sollte er bei seinem ersten Besuch in der Domstadt nach dem Krieg im Haus der katholischen Arbeitervereine, Odenkirchener Straße, Ecke Rheydter Straße. Das aber war schwer zu finden, berichtet Brüning fassungslos, „da nur wenige Menschen, die wir fragten, uns weiterhelfen konnten. Man muss den Namen der zunächstliegenden Kirche angeben, wenn man eine Richtung erfahren will; Straßenbezeichnungen haben keine Bedeutung mehr.“ Tatsächlich lautet die Adresse inzwischen Berndhard-Letterhaus-Straße 26, Ecke Nikolaus-Groß-Straße.

Historiker sehen Mitschuld auf dem Weg zur Diktatur

Nicht wenige Historiker geben Brüning eine Mitschuld daran, dass die Weimarer Republik in eine Diktatur mündete. Der damals 45-jährige Zentrumspolitiker hatte sich im März 1930 von Reichspräsident Paul von Hindenburg zum Reichskanzler ernennen lassen, ohne über eine Mehrheit im Parlament zu verfügen. Regieren konnte er deshalb häufig nur mit Notverordnungen. Der Reichstag wehrte sich. Brünings ließ ihn auflösen. Nach der Wahl im September 1930 blieb er zwar Reichskanzler.

Er wohnte bis zu seiner erneuten Emigration in die USA in Braunsfeld.

Eine eigene Mehrheit im Reichstag hatte er aber immer noch nicht. Stattdessen saßen nun statt zuvor zwölf ganze 107 Nationalsozialisten im Parlament – ihr Stimmenanteil war von 2,5 auf 18,3 Prozent gestiegen, sodass sie die zweitstärkste Fraktion stellten. Währenddessen wurden die Probleme nicht kleiner. Die Wirtschaftskrise verschärfte sich, ebenso die Arbeitslosigkeit. Brüning aber, um einen ausgeglichenen Haushalt bemüht, kürzte die Sozialleistungen. Als Hindenburg den als „Hungerkanzler“ beschimpften Brüning im Mai 1932 entließ, war nicht nur die Verelendung gestiegen, sondern auch die junge Demokratie ausgehöhlt.

Flucht vor Hitler bis in die USA

Kurze Zeit später kam Hitler an die Macht. Auch Brüning flüchtete. Über die Niederlande und die Schweiz ging es erst nach Großbritannien, dann in die USA. Er hielt Vorlesungen in Oxford und in Harvard, wo er im Jahr 1939 einen Lehrstuhl erhielt.

Nach dem Krieg kam Brüning zunächst nur auf Besuch nach Deutschland. Dann aber berief ihn die Universität zu Köln zum Professor für Politische Wissenschaft. Im Herbst 1951 bezog der Junggeselle ein Zimmer im St. Elisabeth-Krankenhaus Hohenlind in der Werthmannstraße. Die Presse vermutete hinter seiner Rückkehr nach Deutschland mehr. Schließlich wurde gerade darüber spekuliert, wie lange Konrad Adenauer noch in Personalunion Kanzler und Außenminister sein könnte. War es da so weit hergeholt, dass Brüning in die Nähe der Hauptstadt Bonn zog, um neuer Außenminister zu werden? Mehr noch: Könnte der ehemalige Reichskanzler nicht sogar Adenauers Nachfolger im Kanzleramt werden? Immerhin war er neun Jahre jünger.

Mit Konrad Adenauer keinen gemeinsamen Nenner gefunden

Brüning zeigte sich verärgert: „Natürlich ist es ausgeschlossen, dass ich ein politisches Amt annehmen kann.“ Trotzdem ließ er kaum verhohlen durchblicken, dass er hinsichtlich der Bonner Politik viele Verbesserungsideen hätte. Kaum verwunderlich. Schon in den 1920er Jahren hatte er mit seinem Parteifreund Adenauer kaum einen gemeinsamen Nenner gefunden. Bei seinem ersten Wiedersehen mit Adenauer konstatierte Brüning dann zwar, dieser sei gewachsen. Andererseits aber sei er doch „in der Außenpolitik etwas naiv“.

Die Lehrveranstaltungen des ehemaligen Reichskanzlers gerieten zu einer Verteidigung seiner Amtszeit. Er habe seine Vorlesungen so gestaltet, schreibt er in einem Brief, „dass klar wird, welche Probleme vor den Staatsmännern standen, was sie in jedem Augenblick des Handelns von zukünftigen Entwicklungen erraten konnten und was sie von den komplexen internationalen Auswirkungen und Folgen der Probleme verstanden.“

Seine Vorlesungen in Köln waren gut besucht und gefragt

Zwar trafen seine Vorlesungen auf großes Interesse. Der größte Hörsaal war mit über 900 Menschen vollgepackt. Die Bonner Politik aber ignorierte ihn. „Konrad Adenauer nimmt von mir keinen Rat an – er tut das Gegenteil!“ klagt Brüning einem Freund.

Das Zimmers im Krankenhaus tauschte er nach einem Jahr gegen eine private Unterkunft. Im Oktober 1952 berichtet Brüning freudig, dass Anni Eckert, Witwe des Gründungsrektors der Universität zu Köln, vorgeschlagen worden sei, „mir die Zimmer ihres verstorbenen Mannes zur Verfügung zu stellen und außerdem mich sonst zu versorgen, einschließlich Auto. Das ist eine glänzende Lösung“.

Die Not war in Köln noch allgegenwärtig

Also zog Brüning in die Hültzstraße 28 in Braunsfeld. Dort lernte er sein Heimatland erst wieder richtig kennen. „Das Leben in Deutschland ist ziemlich merkwürdig, wie mir erst jetzt, nachdem ich dieses Mal so lange dort war, ganz bewusst wurde“, notiert Brüning damals.

Heinrich Brüning

Reichskanzlers (1930-1932) Heinrich Brüning

„Hinter einer Fassade großen Wohlstands lebt ein Drittel der Bevölkerung in außerordentlich beengten Verhältnissen. Neben meinem Haus leben zwei Familien im Keller einer Ruine; bei jeder ragt ein Ofenrohr zum Fenster heraus. Hinter dem Keller haust eine Familie mit drei Kindern in einem Hühnerstall von etwa dreieinhalb Metern im Quadrat. Eines Abends kam ich durch das St.-Severins-Viertel in der Kölner Altstadt; nur drei Häuser standen noch, mein Fahrer verirrte sich im Schutt, und wir sahen kein Licht und kein lebendes Wesen.“ Angesichts der allgegenwärtigen Not kam der ehemalige Hungerkanzler zur Einschätzung, die derzeitige Regierung sei doch die „volksfremdeste“, die er je in Deutschland erlebt habe.

Brünings Einschätzungen verhallten ungehört. Nachdem er im Jahr 1953 emeritiert worden und mit seiner Schwester in Münster sein letzter naher Angehöriger verstorben war, fragte er sich immer öfter, was er noch in Deutschland sollte. „Mein Leben in Köln ist Zeitverschwendung“, klagte er.

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Also kehrte er zwei Jahre später zurück in die Vereinigten Staaten, wo er in Norwich, im Bundesstaat Vermont, wohnte. „Hier bin ich weit entfernt von jeder Hetze des Tages, unter der ich in Köln sehr stark gelitten habe“, schreibt er erleichtert im Dezember 1955.

Die letzte von ihm betreute Doktorarbeit schickte er Anfang des Jahres 1957 an den Rhein, woraufhin er jubelt: „Das hat jetzt glücklich ein Ende.“ Nun hatte er Zeit, an seinen Memoiren und seiner Version der Deutschen Geschichte zu feilen. Publizieren ließ er sie jedoch erst 1970, nach seinem Tod.