Köln – Monika F. hätte nie gedacht, dass ihr so etwas passieren würde. Vergewaltigt. Nicht im Park zu nächtlicher Stunde. Sondern in ihrer eigenen Wohnung. Nicht von einem Unbekannten. Sondern von einem langjährigen Arbeitskollegen. Er brachte sie nach einem Betriebsausflug nach Hause. Die Stimmung war gut. Bis sie kippte. Bis Monika F. „Nein“ sagte und der Kollege nicht aufhörte, sie zu belästigen. Bis er sie in die Enge getrieben hatte.
„Flucht, Kampf oder Erstarren - das sind die Optionen, die Frauen in einem solchen Fall haben“, sagt Irmgard Kopetzky. Als Traumaberaterin beim Verein Notruf und Beratung für vergewaltigte Frauen hat sie in ihrer fast 30-jährigen Tätigkeit unzählige Geschichten gehört. Die von Monika ist exemplarisch. Denn: Zweidrittel der Vergewaltigungen finden im „sozialen Nahbereich“ statt. Freunde, Kollegen, Nachbarn oder Verwandte sind die Täter. „Das macht die Entscheidung für eine Anzeige häufig schwer, denn damit sind oft weitreichende Konsequenzen verbunden“, sagt Kopetzky.
Fast alle Frauen machen sich Schuldgefühle
Doch nicht nur in solchen Situationen kostet es die Opfer Überwindung, sich zu einer Anzeige zu entschließen. Wer einen so massiven Übergriff erlebt, ist vollkommen durcheinander. „99 Prozent der Frauen machen sich Schuldgefühle. Das ist auch zu erklären durch die Tatsache, dass sie sich damit nicht so komplett ohnmächtig fühlen“, sagt Kopetzky. Ohnmacht, Schrecken, Hilflosigkeit, Erstarrung - typische Gefühle nach einer sexuellen Gewalttat. Wie damit umgehen?
„Viele Opfer wollen nichts sehnlicher, als möglichst schnell so etwas wie Normalität wiederherstellen“, sagt Kopetzky. Duschen, verdrängen, den Vorfall aus der Erinnerung verbannen - typische Reaktionen. Sie führen dazu, dass laut Studien nur ein Bruchteil aller Vergewaltigungen angezeigt wird. 229 Fälle weist die Kriminalstatistik für 2020 in Köln aus. Die Dunkelziffer schätzt Kopetzky auf zehn- bis zwanzigmal höher. Damit Frauen und auch Männer sich nach einem sexuellen Übergriff die Möglichkeit offen lassen können, später Anzeige zu erstatten, gibt es in Köln seit zehn Jahren die Anonyme Spurensicherung nach Sexualstraftaten, kurz ASS.
In sechs Kliniken werden Sachbeweise gesichert
Entwickelt hat das Verfahren eine Gruppe des Arbeitskreises „Gegen Gewalt an Frauen“ zusammen mit der Rechtsmedizin der Uniklinik Köln. Sechs Krankenhäuser beteiligen sich. Dort werden bei Opfern, die noch unsicher sind, ob sie Anzeige erstatten wollen, die Spuren gesichert. In der Regel sind dies Abstriche von Sperma, Spucke oder Hautzellen. „Alles, in dem Fremd-DNA nachgewiesen werden kann. Verletzungen und Blutergüsse werden mit Fotos dokumentiert“, sagt Rechtsmedizin-Professorin Sibylle Banaschak.
Sie schult zusammen mit Kopetzky Ärztinnen und Ärzte in den Kliniken. Es geht um fachliches und um psychologisches Rüstzeug. Die Polizei stellt Spurensicherungssets zur Verfügung. „Wichtig ist es, möglichst viele Sachbeweise zu sichern“, sagt Banaschak. Je weniger Zeit vergangen ist, desto mehr Spuren können in der Regel gesichert werden. „Die ersten drei Tage kann man auf jeden Fall Spuren sichern“, sagt Banaschak. Aber auch wer sich später entschließt, kann kommen. In der Rechtsmedizin lagern die Spuren mindestens zehn Jahre.
Auch für Männer steht die ASS zur Verfügung. Eine Übersicht über beteiligte Kliniken gibt es online.
Rund 250 mal ist die ASS bisher in Köln in Anspruch genommen worden. Von jungen Frauen ebenso wie von Seniorinnen. In etwa jedem zehnten Fall wurde bereits auf die gelagerten Spuren zurückgegriffen, um doch noch Anzeige zu erstatten. Meistens entschließen sich die Frauen in den ersten Monaten nach der Vergewaltigung zu diesem Schritt.
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„Für die Opfer ist der Entschluss zu einer Anzeige ein wichtiger Schritt“, ist Kopetzky überzeugt. Wer ihn geht, wird wieder handlungsfähig, erlebt Selbstwirksamkeit, zeigt Grenzen auf. „Wenn das durchgestanden ist, ist für die Frauen definitiv ein Kapitel abgeschlossen.“ Ein Irrglaube sei es indes, eine Vergewaltigung einfach verdrängen zu können, sagt Kopetzky. Uwe Schellenberger, Oberarzt in der Frauenklinik Holweide, die sich an ASS beteiligt, bestätigt das: „Es gibt Langzeitfolgen von Missbrauch, die beispielsweise Hebammen ganz schnell merken.“