Köln – Das erste was er dachte war: „Das kann nicht sein. Nicht in Deutschland im Jahr 2021.“ Auf dem Flugblatt, das in der KVB-Linie 4 aufgetaucht sein soll, heißt es: „Haben wir denn wirklich nur ein Corona-Problem? Oder haben wir nicht ein Juden-Problem?“ Daneben werden unter anderem Bundeskanzlerin Angela Merkel und Gesundheitsminister Jens Spahn verunglimpft. Gesehen hat Samuel Ahren das Flugblatt am Sonntag in einer Facebook-Gruppe. Am nächsten Tag teilte er das Foto und seine Empörung darüber bei Twitter, wo er sehr gut vernetzt ist. Es wurde über 2500 Mal „geliked“ und 500 Mal geteilt. Nun wird gegen Ahren selbst ermittelt wegen der Verbreitung volksverhetzender Schriften. Der 44-Jährige sagt: „Ich habe das erst nicht glauben können.“
Mitglied der Synagogen-Gemeinde
Samuel Ahren ist Jude. Er ist als Baby nach Köln gekommen und hat die deutsche und die israelische Staatsbürgerschaft. Er ist aktives Mitglied der Synagogen-Gemeinde, singt im Chor und hält engen Kontakt, wie er sagt, zu Rabbiner Yechiel Brukner. „Ich bin ein modern-orthodoxer Jude.“ Er hat Dauerkarten für die Haie und den FC, betreut die Fußballer von TuS Makkabi Köln und arbeitet als Angestellter in einem Autohaus.
Das Flugblatt hat er als persönliche Bedrohung empfunden. Nicht zum ersten Mal, aber weil der Antisemitismus so offen formuliert wurde, doch sehr unmittelbar. Das darf nicht unwidersprochen bleiben, hat er gedacht, und daher die Parteien des Stadtrats und Oberbürgermeisterin Henriette Reker in den Tweet eingebunden. Die OB äußerte sich: „Ein besonders widerwärtiges Beispiel dafür, dass Antisemitismus in den Köpfen einer gefährlichen Minderheit unverändert weiterlebt. Wer so denkt, hat weder in Köln, noch irgendwo in unserer Gesellschaft etwas verloren.“ Er sei sehr erfreut gewesen über die Äußerung, sagt Ahren. Auch der Grünen-Politiker Volker Beck äußerte Solidarität.
Kölner Polizei leitet Verfahren ein
Am Donnerstag bekam Ahren eine Reaktion ganz anderer Art. Die Kölner Polizei teilte mit, dass gegen ihn ein Verfahren wegen der Verbreitung volksverhetzender Schriften eingeleitet werde. In Abstimmung mit der Staatsanwaltschaft müsse er als Beschuldigter vernommen werden. Ahren glaubt anfangs nicht, was er hörte. „Das ist doch absurd“, dachte er. Mir ging es nur um die Dokumentation, selbstredend nicht um die Verbreitung des Inhalts, den ich abscheulich finde.“ Die Kriminalkommissarin empfahl, den Tweet zu löschen, was er tat. Doch die Debatte war in der Welt. Viele Twitter-Nutzer kommentierten: „Bitte was? Aufklärung über Volksverhetzung ist keine Volksverhetzung!“ schrieb ein Follower.
Oberstaatsanwalt Ulf Willuhn sagt: „Das strafrechtliche Verbot der Volksverhetzung hat zum Ziel, die Verbreitung hetzerischer Inhalte zu unterbinden.“ Dabei sei es zunächst ohne Belang, welche Ziele mit der Verbreitung eines solchen Flugblattes verfolgt werden. Gerade bei der Verbreitung hetzerischer Inhalte in sozialen Netzwerke könne später niemand kontrollieren, wo und mit Zielrichtung diese verbreitet würden.
Künftig will der Kölner in Israel leben
Ahren ist durch die Polizei mitgeteilt worden, dass es sich eher um ein „formaljuristisches Verfahren“ handele, das vermutlich eingestellt werde. Auch Willuhn betonte, dass in einem Verfahren die Motivation des Verbreiters eine Rolle spielt, wenn diese „unzweifelhaft feststeht“. An der Notwendigkeit, ein Verfahren einzuleiten, ändere das nichts. „Im Übrigen versuchen wir in erster Linie, den Urheber dieses unsäglichen Flugblattes zu ermitteln und zur Rechenschaft zu ziehen.“ Auch Reker und Beck könnte Ärger drohen, da sie das Dokument geteilt haben. Willuhn sagte: „Es ist nicht ausgeschlossen, dass auch hier ermittelt wird.“
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Aufgetaucht sind die Flugblätter laut Polizei am 4. Dezember. Sie seien „in größerer Stückzahl“ in der Linie 4 im Rechtsrheinischen gefunden worden. Die Anfeindungen richteten sich auch gegen den Virologen Christian Drosten. Die KVB teilte mit, sie habe die Flugblätter nicht selbst gefunden. Man sei unterrichtet worden und habe Anzeige erstattet. Ahren hat seinen Anwalt eingeschaltet. Er sagt: „Ich habe es gut gemeint und die Folgen nicht bedacht.“ Aber es irritiere ihn schon sehr, dass er nun im Fokus stehe, und die Verfasser des Flugblattes vermutlich nie ermittelt würden.
Entscheidung Köln zu verlassen ist nicht neu
Seine Entscheidung, Köln zu verlassen, hat er längst getroffen. Er will nahe bei seinem Vater und dem Bruder sein, die in Israel leben. „Ich will meine Nichten nicht nur auf Bildern und Facebook-Grüßen aufwachsen sehen.“ Er fühle sich aber bestärkt in seiner Entscheidung, auch durch die Stimmung im Lande, durch Corona-Leugner und rechte Tendenzen. Er gehört durch zwei Vorerkrankungen zur Risikogruppe und wünscht sich einen schärferen Lockdown.
Dass er Jude ist, habe man ihn häufiger spüren lassen. In der Schule, wo er am 9. November in den Mittelpunkt des Geschichtsunterrichts gestellt wurde, aber auf Fahrten sein koscheres Essen selbst kochen musste. Wo ihn Mitschüler hänselten und prügelten, ohne dass jemand half. Als 14-Jähriger ist er von einem Neonazi ins Krankenhaus getreten worden, erzählt er. Er habe vier Wochen im Koma gelegen. Sein Vater habe ihm immer empfohlen, sich nicht als Jude zu erkennen zu geben. Er trägt nie die Kippa auf der Straße. Er bevorzugt eine Baseballkappe.