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Bilanz nach fünf JahrenWas Polizei und Stadt aus Kölns Silvesternacht gelernt haben

Lesezeit 6 Minuten

Schwieriger Umgang: Als die Polizei nach den Ereignissen des Vorjahres 2016/2017 Männer mit Migrationshintergrund massiv kontrollierte, wurde den Beamten „racial profiling“ vorgeworfen.

Köln – Irgendwann in dieser Nacht fällt am Telefon der Begriff von „bürgerkriegsähnlichen Zuständen“. Mit drastischen Worten versucht ein Gruppenführer der Polizei dem Chef der Leitstelle den Ernst der Lage am Kölner Hauptbahnhof zu verdeutlichen. Vergeblich. Zu unvorstellbar erscheint das Szenario, das rund um den Dom Fahrt aufnimmt. Junge Flüchtlinge schießen johlend Silvesterraketen auf den Dom und in die Menge, Passanten werden bestohlen, Frauen begrapscht und sogar vergewaltigt. Etwa 150 Polizisten stehen einer Meute von etwa 1000 Männern gegenüber und erleben ein Einsatzdebakel.

Ein Treffer von ungeahnter Wucht

Vor fünf Jahren haben die Ereignisse der Kölner Silvesternacht die Stadt und das Land mit ungeahnter Wucht getroffen. „Es gab viele traumatisierte Opfer, denen nicht geholfen wurde. Für uns war klar, dass sich dieses Ereignis auf keinen Fall wiederholen darf“, erinnert sich Kriminaldirektor Klaus Zimmermann. Später belegen veröffentlichte Mitschnitte des Polizeinotrufs, wie überfallene und belästigte Anruferinnen von der Leitstelle abgewimmelt und an die nächste Polizeiwache verwiesen werden. Das Kommunikationsdesaster der Polizei setzt sich bis zum Neujahrsmorgen fort. In der Bilanz ist von „friedlichen“ und „entspannten“ Feierlichkeiten die Rede. Schnell wird der Vorwurf der Vertuschung laut.

Ein halbes Jahr vor dieser Nacht geht ein Satz von Bundeskanzlerin Angela Merkel in die Geschichtsbücher ein: „Wir schaffen das“, ruft sie den Deutschen angesichts des immensen Flüchtlingsstroms zu, der aus Syrien nach Europa drängt. Vielerorts entsteht eine Willkommenskultur, getragen von Initiativen und Vereinen. „Die Silvesternacht war zwar nicht das Ende dieser Kultur, aber das Flüchtlingsthema wurde hochgradig mit Angst besetzt“, sagt Professor Andreas Zick, Sozialpsychologe der Universität Bielefeld und Leiter des Instituts für Konfliktforschung (siehe Interview). Sogar Waffenkäufe nahmen im Jahr 2016 zu. „Für das Image der Stadt Köln war das ein Desaster“, resümiert er in einer Diskussionsveranstaltung des „Mediendienst Integration“ in Berlin.

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Das Polizeiversagen in der Silvesternacht bedeutet das Karriereende für Polizeipräsident Wolfgang Albers, er wird nur eine Woche später in den vorzeitigen Ruhestand versetzt und bezeichnet sich später als „Sündenbock“. Kurz darauf blamiert sich Oberbürgermeisterin Henriette Reker mit ihrem Verhaltenstipp, Frauen sollten doch einfach „eine Armlänge Abstand“ halten. Der Vorschlag wirkte geradezu naiv angesichts der alkoholisierten und aggressiven Meute im Hauptbahnhof, durch die sich Passanten kämpfen mussten. „Man hatte überall nur noch Hände und Finger in Körperöffnungen“, schildert eine Mutter später den Gang durch die enthemmte Männermasse.

Sogar Bürgerwehren zogen durch die Stadt

„Die Republik war schockiert. Niemand hatte geglaubt, dass so etwas in Deutschland passieren kann“, fasst die Pädagogin Behshid Najafi von der Kölner Informations- und Beratungsstelle für Migrantinnen das kollektive Entsetzen zusammen. Noch nie habe sie während ihrer Tätigkeit „solch intensive Rassismusdiskussionen in Köln und Deutschland erlebt“ wie im Anschluss an diese Silvesternacht. Rechtsextreme Parteien und Gruppierungen nutzten die Flüchtlingsdebatte für ihre Propaganda, auch in Köln formierten sich kurzzeitig Bürgerwehren und zogen durch die Stadt. Sogar die Kölner Tatort-Macher widmeten sich anschließend dem Thema in der Folge „Wacht am Rhein“.

Doch die Folgen dieser Nacht beschäftigen das Land mehr als jeder Sonntagskrimi. Im Parlamentarischen Untersuchungsausschuss wird das Ausmaß der polizeilichen Überforderung öffentlich seziert, der Abschlussbericht umfasst 1352 Seiten. Der Bundestag verabschiedet sieben Monate später die Reform des Sexualstrafrechts, nun sind sexuelle Übergriffe aus Gruppen heraus strafbar. „Jahrelang hatten Frauengruppen dafür gekämpft. Nun ging es plötzlich ganz schnell“, erinnert sich Behshid Najafi von der Kölner Beratungsstelle. Der Deutsche Presserat überarbeitete seinen Kodex bezüglich der Berichterstattung über die Herkunft von Tatverdächtigen. Die Nennung der Herkunft sei legitim, wenn ein „begründetes öffentliches Interesse vorliegt“ – zuvor war von einem „begründeten Sachbezug“ die Rede gewesen.

Studie und Umfrage unter Flüchtlingen

Ein Jahr später versuchen die Kölner Polizei und die Stadt Wiedergutmachung zu betreiben. Rund um den Dom wird Silvester eine „Schutzzone“ errichtet, außerdem sorgt eine Lichtinstallation für besinnliche Momente. Doch auch der Begriff „Nafri“, im Polizeijargon Abkürzung für nordafrikanische Intensivtäter, hält Einzug in den alltäglichen Sprachgebrauch, die Polizei twittert ihn sogar und muss sich nach massenhaften Kontrollen arabischstämmiger Männer den Vorwurf des „racial profilings“ gefallen lassen.

Anklagen und Verfahren: Zahlen zur Silvesternacht

1210 Strafanzeigen und 511 Anzeigen wegen sexueller Übergriffe gab es nach den gravierenden Vorfällen in der Silvesternacht 2015/2016. Bei 28 Anzeigen ging es um versuchte, beziehungsweise vollendete Vergewaltigung. Aktenkundig wurden 1304 Betroffene von Straftaten und 661 Betroffene wegen sexueller Übergriffe.

Die Kölner Staatsanwaltschaft meldet in ihrer Bilanz 355 Beschuldigte, davon 91 wegen sexueller Übergriffe. Es wurden 292 Ermittlungsverfahren eingeleitet, davon 63 wegen sexueller Übergriffe. Ein Großteil der Beschuldigten stammen laut Staatsanwaltschaft aus Algerien und Marokko. Die Staatsanwaltschaft erhob 46 Anklagen und sechs Strafbefehle.

36 Personen sind verurteilt worden, davon sind 33 Verfahren rechtskräftig. Es gab insgesamt drei Freisprüche. Von den 46 Anklagen wurden fünf wegen sexueller Nötigung erhoben. Es gab zwei Verurteilungen wegen sexueller Nötigung/Beihilfe zur sexuellen Nötigung, eine wegen

Beleidigung (auf sexueller Grundlage), einen Freispruch und ein Teil-Freispruch. Etliche Anklagen wurden wegen Diebstahls erstattet.

Eine Folge der Silvesternacht: Die Überwachungskameras rund um den Hauptbahnhof wurden komplett erneuert. Kameras gibt es jetzt rund um den Dom, am Ebertplatz, am Neumarkt, auf den Ringen oder am Wiener Platz. Rund 80 Geräte wurden angebracht.

Die schlechten Videokameras waren ein zentrales Thema nach den Vorfällen. Viele Bilder aus dem Bahnhof waren unscharf und konnten die Übergriffe nicht genau zeigen. Deshalb wurden auch im Hauptbahnhof die Kameras erneuert. (ta)

Mit Hilfe der Wissenschaft wird anschließend eine neue Kommunikationsstrategie erarbeitet. „Erst jetzt war die Frage: Wie kommen wir an die Flüchtlinge ran? In vielen Flüchtlingsheimen hatte sich eine Schattengesellschaft manifestiert“, sagt Sozialarbeiter Franco Clemens, pädagogischer Leiter in einer Kölner Flüchtlingsunterkunft.

Bei einer Umfrage unter Flüchtlingen, deren Personaldaten die Polizei bei Kontrollen in der Silvesternacht 2016 aufgenommen hatte, stellte sich heraus, dass die Männer größtenteils aus dem Irak, Syrien und Deutschland stammten – weniger als fünf Prozent kamen aus Nordafrika. „Aber es gab viele Zweifel, weil viele Asylbewerber keine Ausweisdokumente im Ausländerzentralregister eingereicht hatten“, gibt Polizeidirektor Klaus Zimmermann, Leiter der Arbeitsgemeinschaft Silvester, zu bedenken.

In der polizeilichen Kriminalstatistik lassen sich die Auswirkungen der Silvesternacht bis heute ablesen. Die Straßenkriminalität ist in Köln seit 2016 kontinuierlich gesunken, nach dem Silvesterdebakel entwirft die Polizei ein „Präsenzkonzept“ und ist gut sichtbar mit Einsatzhundertschaften an den Kriminalitätsschwerpunkten unterwegs. „Wir haben viel dafür getan, verloren gegangenes Vertrauen zurückzugewinnen“, resümiert Zimmermann. Inzwischen, so ist er sicher, „würden wir solche Situationen auf dem Bahnhofsvorplatz gar nicht mehr entstehen lassen“.