Nach dem Rekordansturm auf das Kölner Univiertel sagte Reker: „Die Frage ist: Wer geht da hin? Zieht man damit noch mehr Publikum an?
„Wir müssen etwas anderes versuchen“OB Reker kündigt Bühne an der Schaafenstraße für Weiberfastnacht an
Auch der Sonnenschein, der den Inneren Grüngürtel in Köln am Sonntagmorgen in helles Licht taucht, macht den Blick über den seichten Hügel hinunter zum Aachener Weiher nicht schöner. Wiesen und Wege sind übersät mit Dosen, Flaschen und anderem Müll. Der Rest vom Fest sozusagen, denn als die Feierzone um die Zülpicher Straße mit 15.000 Feiernden und die Uniwiesen mit rund 50.000 Menschen pickepackevoll sind, weichen die Feierwilligen zum Aachener Weiher aus. Dorthin, wo das Landschaftsschutzgebiet nicht durch aufwändig verlegte Bodenplatten geschützt ist. „Das macht mich unglaublich traurig, denn wir sprechen hier über den Hiroshima-Nagasaki-Park. Nirgendwo sonst würde solch ein Ort derart barbarisch behandelt werden. Was ist sich Köln eigentlich noch wert?“, sagt Andreas Hupke, Bezriksbürgermeister der Innenstadt.
Das Festkomitee in Köln hat in diesem Jahr den Leitsatz „Wat e Theater – Wat e Jeckespill“ zum offiziellen Sessionsmotto auserkoren, schon am Elften im Elften werden der komplette Innenstadtbereich sowie die Südstadt zur Bühne für Feiernde aus der ganzen Republik. Bereits um 9.30 Uhr melden die LED-Wände den Zugangsstopp für die Zülpicher Straße, eine halbe Stunde später ist dieser Zustand auch in der Altstadt rund um den Heumarkt erreicht. Mehrmals an diesem Tag muss der Hauptbahnhof wegen Überfüllung gesperrt werden (siehe Infotext).
Weil der 11. November auf einen Samstag fällt, hatten Stadtspitze und Polizei bereits vorab mit einem „Rekordansturm“ auf Köln gerechnet. Die Prognosen erweisen sich als zutreffend, offizielle Zahlen nennt niemand, alleine rund um das Univiertel knubbeln sich deutlich mehr als 100.000 Menschen. Mit sechs Kilometern Zäunen und einem umfangreichen Sperrkonzept versucht die Stadt Anwohnende zu schützen. Doch auch die Stadt weiß, dass dies nur unzureichend gelingt. „Das Ziel muss sein, zu einer Entzerrung zu kommen. Die Anwohner sind massiv beeinträchtigt, das müssen wir bedenken“, sagt Oberbürgermeisterin Henriette Reker der Rundschau.
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Um die Situation zu beruhigen, richtet die Stadtspitze den Blick offenbar auf eine neue Bühne. „Wir müssen in Richtung Weiberfastnacht überlegen, ob wir nicht eine Bühne an der Schaafenstraße nahe dem Rudolfplatz ins Auge fassen. Die Frage ist: Wer geht da hin? Zieht man damit noch mehr Publikum an? Aber wir müssen etwas anderes versuchen“, fordert Reker. Bei dem Vorstoß geht es voraussichtlich nicht um eine Bühne direkt auf der Schaafenstraße, sondern um den Bereich auf dem Hohenstaufenring zwischen Schaafenstraße und Schaevenstraße.
Karneval in Köln: Innerer Grüngürtel wird zur Müllkippe
An diesem Samstag setzt die Stadt auf exakt jenes Sicherheitskonzept, das auch schon im Februar an Weiberfastnacht präsentiert wurde. Im Rundschau-Interview äußerte Festkomitee-Präsident Christoph Kuckelkorn kürzlich scharfe Kritik am Phlegma der Verwaltung und beschrieb die Stimmung in den Arbeitskreisen des Runden Tischs, der an den Planungen beteiligt werden soll, als „frustrierend“. Diesen Eindruck unterstreichen am Samstag auch Politiker aus dem Kölner Rathaus. „Wir wollen uns jetzt von der Stadtspitze detailliert erläutern lassen, warum keine Alternativveranstaltung möglich war“, sagte Kölns SPD-Fraktionschef Christian Joisten. Dies sei der Wunsch mehrerer Parteien. Andreas Hupke, der Bezirksbürgermeister, will nun juristische Schritte prüfen lassen, um künftig das Feiern im Grüngürtel zu unterbinden.
Nicht nur der Innere Grüngürtel, auch weite Teile der Innenstadt gleichen am Morgen nach den Feierlichkeiten einer Müllkippe. Die Fahrzeuge der Abfallwirtschaftsbetriebe sind seit Samstagabend im Dauereinsatz. Die Müllmenge, so die erste Einschätzung der Verantwortlichen, werde die des Vorjahres deutlich übertreffen. Andreas Hupke hat sich bei einer Walking-Runde am Sonntag ein Bild von den Hinterlassenschaften der Feiernden gemacht. „Wir erleben inzwischen schon so etwas wie Katastrophentourismus. Menschen kommen nach Köln, um sich das Chaos anzuschauen“, sagt er fassungslos. Nun bedürfe es eines Symposiums mit anerkannten Fachleuten, um der Entwicklung nicht permanent hinterher zu laufen. „Das hier ist der Tiefpunkt. Der Anblick des sinnentleerten Feierns, was vor allem auf der Zülpicher Straße zu beobachten ist, hat mich betroffen gemacht“, sagt er.
Die Stimmung im Univiertel an der Zülpicher Straße ist von Beginn an ausgelassen, am Morgen werden Feuertöpfe und Böller gezündet. Später kommt es zu vereinzelten Schlägereien, die von der Polizei jedoch schnell unterbunden werden. Kurz bevor um 11.11 Uhr der erwartbare Jubelschrei auf der Zülpicher Straße ausbricht, erklimmt ein junger Mann in neongelber Warnweste und Jeans eine Laterne und lässt sich von der grölenden Masse abfeiern. Mit einer Hand klammert er sich fest, die andere erhebt er kurz zu einem triumphierenden Gruß aus luftiger Höhe. Die Polizei sieht derzeit keinen Anlass zu Ermittlungen.
Weil aber ein Boulevard-Blatt einen Hitler-Gruß mutmaßt und seitdem vom „Nazi-Eklat“ schreibt, entschließt sich das Festkomitee am Samstag kurzentschlossen zu einer symbolischen Menschenkette vor der Synagoge in der Roonstraße, die unmittelbar an die Feierzone grenzt. Abraham Lehrer, Vizepräsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, steht neben Festkomitee-Präsident Christoph Kuckelkorn in der Menschenkette. Die spontane Aktion der Karnevalisten sei ein „wunderbares Zeichen, das den Gemeindemitgliedern viel Hoffnung gibt“, sagt Lehrer.
Dennoch wird sich der Angriff der Hamas-Terroristen auf Israel am 7. Oktober auch auf den Karneval auswirken. Als am Weiberfastnachtstag vor zwei Jahren die russische Angriffswelle gegen die Ukraine begann, krempelten die Karnevalisten in Köln ihren Rosenmontagszug im Rekordtempo in die bundesweit größte Friedensdemonstration um. Nun richtet sich der Blick in den Nahen Osten. „Der Karneval bewegt sich nie im luftleeren Raum, erst recht nicht in diesem Jahr. Der Erfolg rechter Ideologien, die Klimakrise, die Kriege in der Ukraine und in Nahost sowie die Zunahme von antisemitischen Vorfällen stellen unsere vielfältige Stadtgesellschaft vor eine Bewährungsprobe für den Zusammenhalt“, stimmt Kölns Oberbürgermeisterin Henriette Reker am Morgen bei einem Empfang im Rathaus auf die Session ein. Ihre Rede beendete sie nicht nur mit dem traditionellen Ruf „Kölle Alaaf“ – sie entlockte den Gästen des organisierten Karnevals auch ein entschlossenes „Kölle Schalom“.
Köln erlebt einen Tag, der die Stadt an ihre Grenzen bringt, zwischenzeitlich sind einzelne Straßenbahnhaltestellen wegen Überfüllung gesperrt und werden nicht mehr angefahren. Dass es überwiegend friedlich bleibt, ist auch dem Einsatz von 1000 Polizistinnen und Polizisten sowie 1000 privaten Sicherheitskräften und nochmal einigen Hundert Mitarbeitenden von Ordnungsamt und Stadtverwaltung zu verdanken – ein immenser Aufwand, der Köln jedes Mal einen Millionenbetrag kostet.