- Viele Kreise in Deutschland melden seit Tagen steigende Infektionszahlen
- Der Anstieg ist noch vergleichsweise gering, doch es bahnt sich ein Trend an
- Die Frage ist: Wie reagieren wir jetzt?
Düsseldorf – Wenn es ernst wird, hört man das in Lothar Wielers Stimme. Er spricht dann noch etwas langsamer als ohnehin schon. Seine Sätze sind kurz. Eindringlich. „Halten Sie Abstand“, mahnt Wieler. „Wir haben es selbst in der Hand.“ Der Chef des Robert Koch-Instituts wirkt am Dienstag phasenweise etwas verzweifelt, etwa als er die Ergebnisse der aktuellen Cosmo-Studie vorstellt, wonach die Menschen die Gefahr durch das Coronavirus geringer einschätzen als noch vor einigen Wochen. Dabei deuten die Statistiken eher an, dass sich das Virus wieder mehr verbreitet. „Die neueste Entwicklung der Fallzahlen macht mir und allen im Robert Koch-Institut große Sorgen“, sagt Wieler.
Viele Kreise in Deutschland melden seit Tagen steigende Infektionsfallzahlen. Der Anstieg ist noch vergleichsweise gering, doch es bahnt sich ein Trend an. Die Reproduktionszahl liegt seit Anfang Juli nicht mehr unter einem Wert von 1. Die Zahl gibt an, wie viele Menschen ein Infizierter ansteckt. Bei einem Wert über 1 beginnt ein exponentielles Wachstum der Fallzahlen.
Überall in Deutschland neue Infektionsketten
Es ist in diesen Tagen nun wieder viel von der zweiten Welle die Rede, also von einem stärkeren Wiederaufflammen des Coronavirus. Es zeichnet sich immer mehr ab, dass das Infektionsgeschehen nicht auf einzelne größere Ausbrüche wie in Schlachthöfen zurückzuführen ist, sondern dass überall in Deutschland neue Infektionsketten starten. Vor einem solchen Szenario hatte der Berliner Virologe Christian Drosten schon in den ersten Folgen seines Corona-Podcasts gewarnt.
„Typisch für erste Wellen ist, dass das Virus von außen ins Land getragen wird, also zum Beispiel durch Reisende und Urlauber“, sagt SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach: „In einer zweiten Infektionswelle infizieren sich die Menschen aus der Bevölkerung heraus, weil das Virus bereits überall grassiert. Infektionsketten sind dann schwieriger zu ermitteln, weil sie vielerorts entstehen können.“
Genaue Definition der zweiten Welle gibt es nicht
Eine genaue Definition, wann eine zweite Welle nun begonnen hat oder erreicht ist, gibt es nicht. Dass Viren in Infektionswellen daherkommen, ist aber seit Langem bekannt. Die zweite Welle der Spanischen Grippe, die im Herbst 1918 begann, war die todbringendste der insgesamt drei Wellen. Und auch bei anderen Ausbrüchen von neuen Grippeerregern war die zweite Welle oftmals die gefährlichste.
Neben dem breiten Infektionsgeschehen spielt auch die Jahreszeit eine Rolle. „Die kalten Monate werden den sich abzeichnenden Trend höchstwahrscheinlich noch verschärfen. Die Menschen sind dann mehr drinnen als draußen: In geschlossenen Räumen ist das Ansteckungsrisiko 20-mal höher“, sagt Lauterbach.
Hinzu kommt eine gewisse Sorglosigkeit, die für mehr Infektionen verantwortlich sein kann. Die Risikowahrnehmung und Akzeptanz der Eindämmungsmaßnahmen sind auf das Niveau von vor dem Lockdown gesunken, heißt es in der von Lothar Wieler erwähnten Cosmo-Studie. 19 Prozent der Befragten halten es für wahrscheinlich, dass sie sich mit dem Coronavirus infizieren. Zudem wird das Virus zunehmend unter Reiserückkehrern identifiziert, schreibt das Robert Koch-Institut in seinem aktuellen Lagebericht.
Es stellt sich Frage nach der Reaktion
Die bange Frage, die sich hinter alldem verbirgt, lautet aber: Wie reagieren wir jetzt?
„Ich teile die Einschätzung des Robert Koch-Instituts, dass wir am Beginn einer zweiten Welle stehen“, sagt Lauterbach. Tragisch sei dabei vor allem, „dass wir sie möglicherweise hätten verhindern können, wenn wir den Lockdown ein paar Wochen länger durchgehalten und konsequent Quarantänen und Tests nach Reisen eingeführt hätten“. Doch Bund und Länder waren sich weitgehend einig, dass es Lockerungen geben musste.
„Ein erneutes Herunterfahren der Wirtschaft und des öffentlichen Lebens verbietet sich jetzt, daher müssen andere Strategien gefunden werden, wie wir mit einer zweiten Welle zurechtkommen“, sagt Lauterbach.Mehr Neuinfektionen
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Das RKI schreibt: „In den letzten Wochen ist der Anteil an Kreisen, die über einen Zeitraum von sieben Tagen keine Covid-19-Fälle übermittelt haben, deutlich zurückgegangen.“ Noch Mitte Juni hatten in Deutschland rund 160 Landkreise in der Vorwoche keine Neuinfektionen gemeldet. Nun sind es nur noch knapp unter 100. In Bayern, Berlin, Bremen und Hessen liegt die Sieben-Tages-Inzidenz leicht und in NRW deutlich über dem bundesweiten Durchschnittswert. Wann Bund und Länder die Maßnahmen zur Eindämmung des Virus wieder verschärfen, hängt davon ab, wann das selbst auferlegte Frühwarnsystem anschlägt. 50 bestätigte Neuinfektionen pro 100 000 Einwohner innerhalb von sieben Tagen: Auf diesen Grenzwert einigte man sich (in Bayern sind es 35). (EB)