Auszeit in Schwarz-Rot-GoldWelche Auswirkungen die EM auf Deutschland haben kann

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Im Kölner Tanzbrunnen feierten jeweils 12 500 Fans die beiden Siege und das späte Unentschieden in der EM-Vorrunde.

Im Kölner Tanzbrunnen feierten jeweils 12 500 Fans die beiden Siege und das späte Unentschieden in der EM-Vorrunde.

Psychologe Stephan Grünewald glaubt, dass sich die EM sowohl auf die Stimmung im Land als auch auf die Wirtschaft auswirken kann.

Und plötzlich ist die ganze Nation doch wieder auf der Straße. Gefühlt zumindest. Auf dem Kölner Heumarkt verfestigt sich dieser Eindruck schon gut 80 Minuten vor Anpfiff des abschließenden Gruppenspiels der deutschen Nationalmannschaft gegen die Schweiz. Die Altstadt ist komplett dicht, die Stadt stoppt den Einlass auf die 7500 Menschen fassende Fan-Zone. Auch 20 Fußminuten entfernt stauen sich die Fan-Massen an der zweiten Fan-Zone in Deutz. Auf vielen Rücken prangen die Namen der Hoffnungsträger: Kroos, Wirtz, Musiala. Gerne auch auf pinkem Grund. Das mutige, viel kritisierte und noch mehr gelobte Auswärtstrikot hat sich in den vergangenen Wochen zum Verkaufsschlager entwickelt. Die nach dem Tor der Schweizer zwischenzeitlich lauter werdenden Stimmen der Zweifler verwandelt Niclas Füllkrugs Kopfball ins Glück zu später Stunde in einen kollektiven Jubelschrei. Und irgendwo im Hinterkopf keimt die leise Hoffnung, dass es vielleicht doch noch ein bisschen so wird wie damals, im Sommer 2006.

Perfekte Gäste: Köln liebte die Schotten, die Schotten liebten Köln.

Perfekte Gäste: Köln liebte die Schotten, die Schotten liebten Köln.

Ist sich Deutschland also wieder einig im Freudentaumel? Nicht so sehr wie in Pessimismus vor dem Turnier. Dass es kein „Sommermärchen 2.0“ geben könne, war sozusagen der Negativschwur, hinter dem sich Talk-Show-Gäste und Stammtischvertreter versammeln konnten. Zu schlecht sind die Zeiten, zu groß die Ängste. Da konnte Philipp Lahm noch so viel mit seinem bubihaft strahlenden Lächeln und dem glänzenden Siegerpokal durch die Städte reisen. Der Psychologe und Buchautor Stephan Grünewald sieht auf dieser Ebene dann doch Parallelen zum Jahr 2006. „Es gab vor dem Sommermärchen damals eine große Angst, dass uns die ,nationalen Gäule' durchgehen und das Fahnenschwingen wieder zu einer deutschen Besessenheit wird und wir dann von der Welt schräg angeguckt werden, weil wir unsere Gastgeberpflichten bei solch einem Event vernachlässigen.“ Das erlösende Moment sei die Erfahrung gewesen, dass die Deutschen charmante Gastgeber sein und gleichzeitig so einen unbeschwerten Patriotismus zeigen konnten. „Es war daher auch eher ein ,Party-otismus', weil das Feiern damals so im Vordergrund stand.“ Das habe dazu geführt, dass dieses Damoklesschwert von der deutschen Seele genommen wurde. Patriotismus hatte kein fanatisches Gesicht in Deutschland. Gewissermaßen sei die WM zu einer „nationalen Lockerungsübung“ geworden.

Leider hat dieses Gefühl nicht durchgängig angehalten. Die „German Angst“ ist wieder allgegenwärtig, angesichts explodierender Preise und Krisenherde soweit das Auge reicht, aber auch sehr nachvollziehbar. Viele Menschen haben schlicht Zukunftsängste, auch die jüngeren: Nach einer Studie der Techniker Krankenkasse aus dem Frühjahr fühlen sich knapp zwei Drittel (64 Prozent) der jungen Erwachsenen mindestens manchmal seelisch belastet. Neben den hohen Anforderungen in Schule, Studium oder Beruf (machen zwei Dritteln zu schaffen) sind es vor allem politische und gesellschaftliche Probleme wie zum Beispiel Klimawandel, Kriege oder Inflation, die aufs Gemüt drücken. Was soll daran ein Fußballturnier ändern?

Stephan Grünewald sieht Parallelen zum Sommermärchen

„Ich erkenne heute eine große Sehnsucht in der Bevölkerung nach einer Art Wiederholung eines solchen Sommermärchens“, sagt Grünewald. „Das hängt mit den vergangenen und laufenden großen Krisen zusammen, die dazu geführt haben, dass man große Ohnmachtsgefühle hat, dass man erlebt hat, wie die Gesellschaft sich mehr und mehr entzweit, dass Solidarität nur noch in den Meinungsblasen stattfindet und das Grundvertrauen in die Leistungsfähigkeit unseres Staates erschüttert ist.“ Die Folge sei eine weit verbreitete Resignation und eine Flucht ins Private. Daten, die Grünewald im letzten Jahr erhoben hat, belegen das: 2023 gaben 87 Prozent der Befragten an, dass sie zuversichtlich hinsichtlich ihrer privaten Situation sind, aber nur 27 Prozent haben Zuversicht für die „Welt da draußen“. Der Psychologe schlussfolgert: „Solch eine Stimmungslage erzeugt jedoch Sehnsüchte bei den Menschen. Man will wieder raus und Menschen treffen und gemeinsame Ziele haben.“ Mit einem Sportevent wie der EM ist das zumindest temporär wieder möglich. Platt ausgedrückt, teilt man aktuell mit anderen Fans das Ziel, Europameister werden zu können.

Dabei zeigt Deutschland auch 18 Jahre nach dem Sommermärchen, dass es ganz anders sein kann als die Welt glaubt. Der Transfer der Fans zwischen den Spielstätten verläuft eher schleppend. Auch Turnierdirektor Lahm hing schon mal fest und kritisierte die Deutsche Bahn. Der Fan von der Straße kennt das ja schon. Eine pünktliche Regionalbahn am Morgen wird da schon mal gefeiert wie ein Siegtor im Elfmeterschießen. Die New York Times schrieb angesichts der Warteschlangen an den Haltestellen: „Vergessen Sie alles, was Sie über deutsche Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit zu wissen glaubten.“ Eigentlich doch ganz sympathisch, oder? Doof nur für die österreichische Fangruppe, die erst in der 70. Minute zum Auftaktspiel gegen Frankreich im Düsseldorfer Stadion eintraf.

Fußball-EM in Köln: Gegenseitige Liebe zwischen Schotten und Kölnern

Die vielen emotionalen, herzzerreißenden und vor allem mitreißenden Fan-Geschichten lassen den größten Ärger zumindest für den Moment wieder vergehen. Was hat diese EM-Vorrunde nicht schon für Bilder geschaffen. Da war die Fan-Armada der Holländer, die die Hamburger, Leipziger und Berliner Straßen hüpfend in ein orangenes Party-Meer verwandelten und sich über Nacht zum viralen Internet-Phänomen mauserten. Und da waren vor allem die schottischen Fans, die trotz der sportlichen Defizite ihres Teams ein Musterbeispiel für Stimmung und Lebensfreude abgaben. Die Gastgeber schlossen die Schotten ins Herz, und auch die Schotten zeigten sich beglückt über die deutsche Gastfreundschaft. Nicht zu vergessen über das deutsche Bier.

Deutsche Fans feiern die Nationalmannschaft im Tanzbrunnen in Köln.

Deutsche Fans feiern die Nationalmannschaft im Tanzbrunnen in Köln.

Für den wohl rührendsten Moment sorgten zwei junge Schotten auf dem Alter Markt in Köln. Bei strömendem Regen begleiteten sie einen Senior mit Rollator durch die Altstadt und schützten ihn mit einem Regenschirm. Der Internet-Ruhm war ihnen sicher. In Köln hofften viele auf eine Rückkehr der „Bravehearts“ im Achtelfinale. Vergeblich. Für die Schotten war nach der Gruppenphase als Tabellenletzter Schluss. Eine Petition, die ein jährliches Freundschaftsspiel zwischen Deutschland und Schottland fordert, hat immerhin schon über 50 000 digitale Unterschriften.

Stephan Grünewald: Erfolg kann Auswirkungen auf ökonomische Entwicklung haben

Auch Philipp Lahm hat vermutlich auf Szenen wie diese gehofft. Doch der Ex-Nationalspieler ist Pragmatiker genug. Er hat die Erwartungen nicht zu hoch angesiedelt. In Köln sagte er zu der ausgelassenen Stimmung: „Unglaublich. Genau das wollten wir, dass die Menschen zusammenkommen und einfach wieder eine gute Zeit haben.“ Ob eine positive Stimmung, wie sie aktuell ja wieder vorliegt, nachhaltig sein wird, hängt laut Grünewald tatsächlich auch von dem sportlichen Erfolg der deutschen Mannschaft ab. Wenn sie ins Halbfinale oder Finale kommen würde, könne das sowohl auf die Stimmung in der Zeit nach dem Turnier als auch auf die ökonomische Entwicklung durchaus Einfluss haben, weil viele dann das Grundgefühl hätten, dass wir ganz so schlecht doch nicht sind und sogar was erreichen können – auch wenn es „nur“ Fußball ist.

Zudem fördere ein solches Nationenturnier auch eine größere Weltoffenheit. Die Menschen erlebten, dass andere Nationen - die Schotten, die Engländer oder die Schweizer – in Köln ausgelassen und meist friedlich ihre Mannschaft und Nation feiern. Da könne man sich mitfreuen. Und wenn man dann noch von den Gast-Fans Komplimente bekommt, dass sie sich hier wohl fühlen, freue sich die deutsche Seele.

„Ob diese positiven Erlebnisse und das Fairplay während der EM auch nachhaltige positive Wirkungen auf die derzeitige Verbissenheit und Polarisierung in der Gesellschaft haben werden, ist natürlich noch offen“, sagt Grünewald. „Wichtig ist, dass es wieder mehr Begegnungen wie bei der Fußball-EM geben wird, wo sich Menschen, die auch unterschiedlicher Ansichten sind, treffen und austauschen und erkennen, dass die anderen gar nicht so verkehrt oder vielleicht sogar sympathisch sind.“

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