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Interview

Mainz-Sportdirektor Martin Schmidt
„Bo hat uns seine Energie eingeimpft“

Lesezeit 9 Minuten
Trainer Bo Henriksen heizt die Fans vor dem Spiel an.

Kein Torjubel: Der dänische Trainer Bo Henriksen (49) animiert vor jedem Spiel die Mainzer Fans.

Der FSV Mainz 05 ist die Mannschaft der Stunde im Abstiegskampf der Fußball-Bundesliga. Maßgeblich dafür verantwortlich ist der neue Trainer Bo Henriksen.

Tobias Carspecken sprach mit Sportdirektor Martin Schmidt über das Energiebündel an der Mainzer Seitenlinie und das Kellerduell am Sonntag (17.30 Uhr, DAZN) gegen den 1. FC Köln.

Herr Schmidt, der FSV Mainz 05 steht erstmals seit dem zweiten Spieltag nicht mehr in der Abstiegszone. Wie fühlt sich das an?

Eigentlich wie vor zwei, drei Wochen. Es ist und bleibt Abstiegskampf. Für uns ist es ein Zwischenschritt auf dem Weg, den wir vor einigen Wochen zusammen mit dem neuen Trainer gestartet haben. Wir haben ein Zwischenziel erreicht, mehr aber noch nicht. Die Demut ist da, die Freude noch sehr begrenzt. Es wäre schöner, am Ende der Saison auf dem 15. Tabellenplatz zu stehen. Diesen Platz wollen wir jetzt verteidigen.

Nach dem 21. Spieltag lag Mainz noch neun Zähler hinter dem rettenden Ufer. Hätten Sie es für möglich gehalten, in nur neun Partien eine derartige Aufholjagd starten zu können?

Davon haben wir kaum zu träumen gewagt. Wichtig war, dass wir uns einzig und allein auf uns konzentriert und jedes einzelne Spiel wie ein Finale angenommen. Wir haben uns nicht mit den Ergebnissen der Konkurrenten oder Was-wäre-wenn-Szenarien beschäftigt. Sonst hätten wir den Fokus verloren und wären nicht mehr in einer aktiven Phase gewesen. Wir wollen aktiv sein und aktiv bleiben.

Wie groß ist in Mainz inzwischen die Zuversicht, auch nach dem 34. Spieltag über dem Strich zu stehen?

Die Zuversicht wächst, wenn wir die große Aufgabe gegen Köln bewältigen. Das ist ein sehr, sehr wichtiges Spiel, das wissen wir alle. Wir liegen nur fünf Punkte vor dem FC, der auswärts stark auftritt und schwer zu schlagen ist. Es ist noch nicht die Zeit für Träume.

Was spricht im Vergleich zum VfL Bochum und dem 1. FC Köln für Mainz?

Vielleicht das Momentum. Wir hatten vor Weihnachten vier, fünf Spiele, nach denen wir nicht wussten, wie wir sie verlieren oder nur unentschieden spielen konnten. Aus solchen Spielen holen wir im Moment Punkte. Daran wollen wir möglichst lange festhalten. Wenn wir aber nur ein bisschen nachlassen, dann ist auch das Momentum schnell wieder weg.

Mainz und Köln vereint, dass beide Clubs nach einem letztjährigen Mittelfeldplatz in den Tabellenkeller gestürzt sind. Wie konnte es in Mainz so weit kommen?

Auch wenn wir vor dieser Saison zwei gute Jahre hatten, kennen wir den Abstiegskampf, er ist Teil unserer DNA. Wir wissen jedes Jahr, dass ein einstelliger Platz nur dann möglich ist, wenn jedes Rädchen ins andere greift. Aber es kann auch immer Abstiegskampf sein. Der Klassenerhalt steht immer über allem. Und alles ist nicht planbar. Wenn man im letzten Sommer eine Umfrage gestartet hätte, welche Trainer am längsten im Amt bleiben, dann wären Köln, Mainz und Union Berlin glaube ich auf den ersten drei Plätzen gelandet. An Weihnachten waren alle drei Trainer nicht mehr im Amt. Und wir wussten natürlich auch nicht, dass sich acht, neun unserer Stammspieler verletzen und lange ausfallen würden. Daran sieht man, dass Fußball unberechenbar ist.

Die Mainzer Aufholjagd ist eng verbunden mit Bo Henriksen, der vor dem 22. Spieltag übernahm. Welcher Gedanke steckte hinter seiner Verpflichtung?

Wir wussten, dass wir die Köpfe der Spieler verändern müssen, dass wir eine neue Energiequelle brauchen. Deshalb war für uns klar: Wir wollen einen Trainer, der von extern kommt, der neue Impulse geben, das Energielevel steigern und frischen Wind reinbringen kann. Das hat Bo sehr, sehr gut geschafft. Er hat uns seine Energie eingeimpft. Es war ein Glücksfall für uns, dass Bo zu der Zeit zu haben war. Wir sind auf dem Weg der Besserung, aber noch nicht gesund. Das Ziel ist noch lange nicht erreicht.

Wie nehmen Sie Bo Henriksen in der täglichen Zusammenarbeit wahr?

Er ist ein sehr offener Mensch. Man weiß genau, woran man bei ihm ist. So impulsiv und emotional wie er an der Seitenlinie ist, so ist er auch als Typ. Gleichzeitig strahlt Bo etwas Familiäres aus. Und er weiß, was er will. Das Training ist sehr intensiv und lautstark im Coaching. Es macht Spaß, aber er fordert auch viel ein. Er ist nicht nur Motivator und ein Gute-Laune-Macher, sondern auch inhaltlich ein absoluter Fachmann. Deshalb bringt er das volle Paket mit.

Mainz ist für Bo Henriksen die erste Station in der Bundesliga. Wie sind Sie auf ihn aufmerksam geworden?

Wer Christian Heidel (Sportvorstand des FSV Mainz 05; Anm. d. Red.) kennt, der weiß, dass er schon immer ein Faible für sehr spezielle Trainerlösungen hatte. Christian und ich haben natürlich auch den Trainermarkt im Auge. Erstmals aufgefallen ist uns Bo Henriksen in Dänemark beim FC Midtjylland. Als Schweizer beobachte ich zudem intensiv die Super League und habe demnach seinen Weg auch beim FC Zürich verfolgt. Wir haben schon im November nach der Trennung von Bo Svensson an ihn gedacht, uns dann aber für die interne Lösung mit Jan Siewert entschieden.

Warum haben Sie sich im Februar wieder von Siewert getrennt?

Wir hatten das Gefühl, nochmal etwas machen zu müssen. Die Spiele mit Jan waren immer eng. Wir waren immer nah dran. Aber irgendwas hat gefehlt.

Es gab auch einen herben Rückschlag unter Bo Henriksen. Wie haben Sie ihn nach dem 1:8 in München erlebt und welche Rückschlüsse wurden aus dem Debakel gezogen?

Bo war sehr, sehr selbstkritisch und hat die Niederlage auf sich genommen. Er wollte auch in München mutigen Fußball spielen, sehr hoch pressen, den Gegner unter Druck setzen und kurze Wege zum Tor haben. Stattdessen wurden wir ausgekontert. Wenn man aber sieht, was danach kam, dann lässt sich festhalten, dass Bo und die Mannschaft die richtigen Schlüsse gezogen haben. Deshalb braucht es halt auch mal solche Niederlagen, um zu wachsen und um besser zu werden. Klar war das Ergebnis nicht schön, mit einer der höchsten Niederlagen, die wir je kassiert haben. Aber die Lehren, die wir daraus gezogen haben, haben gefruchtet und waren die Basis für die anschließende Serie.

Besteht dennoch die Gefahr, dass sich Henriksens Art relativ schnell abnutzen könnte?

Es gibt Trainer, die über die emotionale Schiene kommen und sich irgendwann abnutzen. Und dann gibt es Trainer wie Jürgen Klopp, die das über viele Jahre erfolgreich leben. Sehr wichtig ist die Authentizität. Ist der Trainer wirklich so? Oder spielt er nur eine Rolle? Bo ist sehr authentisch, grundlegend immer positiv gestimmt. Jeden Morgen erkundigt er sich zunächst danach, wie es einem geht. Dieses Positive, das spielt er nicht, das ist ehrlich gemeint. Mit Bo kann es hier eine schöne, lange Geschichte werden.

Zeigt die Trennung von Vereinsikone Bo Svensson, dass es im Fußball eine Art Laufzeit für Trainer gibt?

Es gibt so viele Facetten im Fußball. Manchmal ist es die Mannschaft, die sich verändert, wodurch der Erfolg schwieriger wird. Auf der anderen Seite sind auch Trainer nur Menschen. Oder es sind – wie im Herbst bei uns in Mainz - auch mal äußere Umstände wie beispielsweise unsere bereits genannte, krasse Verletzungsmisere. Jetzt sind alle wieder da. Bo Henriksen kann also als erster Trainer diese Saison personell nahezu aus dem Vollen schöpfen.

Was hat Svenssons Abschied für Mainz bedeutet?

Bo war uns gegenüber sehr, sehr ehrlich. Er hat gesagt, dass er nicht weiß, ob er noch genügend Energie für das Team hat. Daher kam es zu dem Wechsel, obwohl wir im Sommer noch geglaubt hatten, den Trainer für die nächsten fünf Jahre zu haben. Der Abschied hat allen in Mainz sehr wehgetan. Das war ein Schock für alle, weil Bo eine ganz besondere Persönlichkeit ist und seit 2007 mit nur kurzer Unterbrechung in verschiedenen Funktionen in Mainz tätig war. Diese Vergänglichkeit gehört zum Fußball jedoch dazu. Es kommt immer wieder etwas Neues, an dem man sich dann wieder aufrichten muss.

Welche Bedeutung für die Aufholjagd messen Sie der im Winter getätigten Verpflichtung des Leverkuseners Nadiem Amiri bei?

Er tut uns sehr gut – mit seinen spielerischen Lösungen und Tempowechseln, mit seinen Standards, mit seiner Persönlichkeit. Dass sich so ein Mann für den damaligen Tabellenvorletzten entschieden hat, war ein Zeichen an das gesamte Team. Sein Ja zu Mainz hat bei vielen Spielern etwas im Kopf bewirkt. Sie haben gespürt: Der glaubt daran, dass wir das schaffen können. Nadiem wollte wieder eine größere Rolle spielen, ein wichtiger Spieler sein. Er hat diese Führungsrolle direkt übernommen und ist gleichermaßen Teamplayer und Leistungsträger. Er ist mit einer der entscheidenden Faktoren, warum wir nun auf einem Nichtabstiegsplatz stehen. Seine Entscheidung für Mainz war für beide Seiten sehr gut.

Der 1. FC Köln ist dagegen noch bis Januar 2025 von einer Transfersperre blockiert. Wie bewerten Sie als Manager den Fall Potocnik?

Ich habe aus der Ferne zu wenige Kenntnisse, um ihn bewerten zu können und zu wollen. Ich kann mir aber gut vorstellen, dass das keine einfache Situation für den FC ist – allein schon, weil man im Januar im Gegensatz zu den anderen Vereinen personell nicht nachlegen konnte.

Mit einem Sieg kann Mainz den FC auf wohl entscheidende acht Punkte distanzieren. Wird Ihre Mannschaft das Spiel genauso angehen?

Wir kommen aus einer sehr guten Phase. Fünf Spiele, elf Punkte, elf Tore geschossen, nur zwei kassiert. Das stärkt natürlich unser Selbstvertrauen. Genau mit diesem Selbstvertrauen gehen wir in das Spiel. Wir wollen von Anfang an zeigen, dass wir gewinnen wollen. Wir werden auch am Sonntag mit den Fans und der Stadt wieder eine Einheit bilden und einen Hexenkessel entfachen. Gegner, die hierher kommen, sollen spüren, dass sie nicht nur gegen ein Team, sondern gegen eine ganze Stadt spielen. Es wird ein harter Fight. Darauf stellen wir uns ein.

Zur Person

Martin Schmidt (57) ist seit Ende Dezember 2020 Sportdirektor des FSV Mainz 05. Der in Naters im Schweizer Kanton Wallis geborene Fußballlehrer übernahm das Amt zeitgleich mit Sportvorstand Christian Heidel. Von 2010 bis 2017 war Schmidt schon einmal für die Rheinhessen tätig. Zunächst arbeitete er fünf Jahre lang als Trainer der zweiten Mannschaft, die er zum Aufstieg in die 3. Liga führte. Danach wurde er zum Chefcoach des Profiteams befördert, mit dem er in der Saison 2015/16 zum ersten Mal in der Vereinsgeschichte der 05er die Europa League erreichte.

Weitere Stationen waren der VfL Wolfsburg (September 2017 bis Februar 2018) und der FC Augsburg (April 2019 bis März 2020). Zudem arbeitete Schmidt in der Saison 2020/21 als Bundesliga-Experte für Sky. Während seiner aktiven Karriere stieg Schmidt mit dem FC Naters in die Zweite Liga auf. Aufgrund von sieben Kreuzbandrissen, die sich der frühere Kuhhirte, Textil-Unternehmer und DTM-Mechaniker beim Fußball, Extremski und Mountainbiken zuzog, schlug er früh die Laufbahn als Trainer ein. (tca)