Oberholzen – Die Zufallsentdeckung liegt schon einige Jahre zurück. Sebastian Hess war 2007 in der Wiehler Heimat unterwegs, um Proben für einen Ferienkurs zu sammeln. Am Dietrich-Bonhoeffer-Gymnasium, wo er zwei Jahre zuvor das Abitur gemacht hatte, brachte er den Schülern die „Wunderwelt der Einzeller“ nahe. Im Wald bei Oberholzen fiel ihm eines Tages seltsam verkrustetes Moos auf: „Es sah aus wie in Teer getunkt.“
Unter dem Mikroskop zeigte sich, dass die Substanz aus Mikroalgen bestand, die von einer schwarzvioletten Schleimschicht umgeben waren. Welchen Zweck hat diese Schicht? Die verblüffende Antwort auf diese Frage haben Hess (35) und seine Kollegin und Lebensgefährtin Anna Busch (30) nun im European Journal for Phycology veröffentlicht, einem Fachblatt für Algenkunde: Den Schleim produziert die Alge, um sich vor der Sonne zu schützen. „Für eine einzellige Lebensform“, findet Hess, „ist das beeindruckend“.
Die Wiehler Alge findet sich auch in North Carolina
Dass zwischen Entdeckung und Publikation so viele Jahre vergangen sind, hat unter anderem damit zu tun, dass Hess zwischenzeitlich in Köln ein eigenes Institut aufgebaut und einige Jahre lang zusammen mit Busch in Amerika gearbeitet hat. Auch in den Great Smoky Mountains im US-Staat North Carolina haben sie die Serritaenia-Alge entdeckt.
Die neue Gattung kommt offenbar überall auf der Welt vor, wenn die Lebensbedingungen stimmen. Das Oberbergische ist ein Tummelplatz für an Land lebende Algen, denn sie brauchen Feuchtigkeit. „Vom Atlantik aus gesehen ist das Bergische Land die erste richtige Erhebung, sodass sich hier ozeanische Luft abregnet“, erläutert Hess.
Da sie dennoch austrocknen könnten, bilden die Landalgen eine Schleimschicht. Die neue Gattung produziert in diesem Schleim eine Pigmentierung, die die Zelle vor schädlichen Strahlen schützt, denen sie als Landlebewesen viel stärker ausgesetzt ist als die Wasserverwandtschaft. Anna Busch erläutert: „Das ist so wie die Sonnenbräune beim Menschen.“ Dieses Phänomen sei sehr ungewöhnlich für Grünalgen dieser Art. Bisher seien Sonnenschutzpigmente außerhalb der Zelle nur bei Cyanobakterien beobachtet worden.
Entdeckung von Wiehler Biologe erregt Aufsehen
Wie Anna Busch berichtet, hat die Entdeckung dem Biozentrum der Universität zu Köln, an dem sie mit Hess zusammenarbeitet, in der Fachwelt bereits viel Aufmerksamkeit beschert. Vor zwei Jahren wurde die von Sebastian Hess geleitete Forschungsgruppe eingerichtet.
Aus dem Emmy-Noether-Programm der Deutschen Forschungsgemeinschaft wurden ihm knapp zwei Millionen Euro zugesprochen, um sechs Jahren lang über die evolutionäre Entwicklung von Mikroorganismen zu forschen. Anna Busch promoviert dort gerade über das gemeinsame Thema.
Wissenschaft in der Pandemie
Die Corona-Beschränkungen haben Forschung und Promotion wenig geschadet, sagt Anna Busch. Im Gegenteil: „Es war förderlich, dass man nicht so viele private Verpflichtungen hatte.“ Sebastian Hess hat den unkomplizierten Austausch mit internationalen Fachkollegen über Internetkonferenzen schätzen gelernt. Dass die Wissenschaft in Zeiten der Corona-Krise auch Kritik einstecken musste, wundert den Wiehler nicht. Er ist der Auffassung: „Es ist wichtig, dass die naturwissenschaftliche Forschung nicht alles dominiert.“
Die Gesellschaft, so Hess, müsse auch sozial- und humanwissenschaftliche Erkenntnisse einbeziehen: „Etwa die Konsequenzen, die es mit sich bringt, wenn die Kinder nur noch zu Hause sitzen.“ (tie)
Sebastian Hess hat 2005 als Schüler einen Bundessieg im Wettbewerb „Jugend forscht“ errungen. Doch aus ihm ist kein introvertierter Tüftler geworden, sondern ein Wissenschaftler mit „Aufklärungsauftrag“, wie er es nennt. Erst recht, wenn es um Klimaschutz geht. „Das Fichtensterben mag aus waldökologischer Sicht zwingend sein, weil der Baum nicht in die Landschaft gehört“, sagt Hess.
Dennoch tue es ihm weh zu sehen, wie die regionaltypische Landschaft wegstirbt. „Ich habe als junger Mensch viel Zeit in diesen dunklen Wäldern mit Naturforschung verbracht. Dass es damit vorbei sein wird, macht mir Angst.“