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BundestagswahlWarum die AfD auch in Oberberg die Sozialen Medien dominiert

Lesezeit 5 Minuten
Fünf Smartphones zeigen die oberbergischen Bundestagswahlkandidaten.

Die Präsenz in den Online-Kanälen gilt für viele Wahlkampfstrategen mittlerweile als unverzichtbar.

Zwischen Fake-News und Aufmerksamkeit: Viele Vertreter der anderen Parteien fühlen sich vom Wahlkampf im Internet überfordert.

„Es begeistert keinen jungen Menschen, wenn im Video ein älterer Mann im dunkelblauen Anzug ein Parteiprogramm vorliest“, stellt Carsten Brodesser, oberbergischer Bundestagskandidat der CDU, durchaus selbstkritisch fest. „Ich werde aber nicht wie ein Kollege von einer anderen Partei auf Tik-Tok im Slip auf dem Parkett steppen. Obwohl das enorme Reichweite bringt.“

Klicks, Follower, Reichweite – das sind Zauberwörter im Wahlkampf, die Kandidatinnen und Kandidaten der Parteien aufschrecken, die nicht zur extremen Rechten gehören. Denn die, so zeigen Umfragen, haben vor allem bei jungen Leuten die Nase vorn – jedenfalls was die Aufmerksamkeit betrifft. Gerade erst bestätigten dies Jugendliche in Workshops an den Gesamtschulen in Waldbröl und Gummersbach (diese Zeitung berichtete). Wie gehen Politiker aus Oberberg mit der Herausforderung um?

Oberbergische Kandidaten kritisieren die TikTok-Logik

„Die Aufmerksamkeit für bewegte Bilder hält zwei bis drei Sekunden, sonst wird man weggewischt. Wenn man sich auf das Niveau einlässt, muss man was bieten. Das hat die AfD erkannt“, stellt Brodesser (57) fest. „Influencerinnen hampeln auf Instagram leicht bekleidet rum. Die Botschaft: Wenn Du das likest, wählst Du blau, denn blau ist in“, kritisiert SPD-Kandidat Pascal Reinhardt. „Da wird eine Vielzahl von Inhalten, wenn man das so nennen will, rausgeballert nach dem Motto ,Viel hilft viel‘. Die AfD hat professionelle Teams, die nutzen jeden Trend aus, jeder Diskurs wird abgeflacht. Facebook und Tik-Tok haben das menschliche Gehirn gut geknackt, das funktioniert wie ein Spiel, da werden die Dopaminrezeptoren geflutet.“ Sabine Grützmacher, Kandidatin der Grünen, stellt fest: Falsche Nachrichten zu widerlegen, sei schwieriger als sie in die Welt zu posaunen.

„Wer viele Klicks haben will, muss es spannend machen, auch wenn es etwas populistisch ist, so funktioniert Social Media“, meint FDP-Bundestagskandidat dagegen Sebastian Diener. Späte Erkenntnisse: „Die FDP hatte lange Zeit einen Unvereinbarkeitsbeschluss, wir wollten chinesischen Spyware nicht unterstützen. Die AfD hat diese Bedenken nicht und daher einen Vorsprung. Aber wenn wir nicht – wenn auch mit Bauchschmerzen – mitmachen, kriegen wir die jungen Menschen nicht.“ Die Verweigerung sei ein strategischer Fehler gewesen, findet auch Jan Köstering, Kandidat der Linken. Er selbst habe sich vom Dienst „X“ (vormals Twitter) verabschiedet, nachdem dieser durch Elon Musk an Qualität verloren habe. Aber gerade jetzt träten viele junge Leute in die Partei ein, da müsse man präsent sein. Die CDU kaufe Reichweite, erzählt Carsten Brodesser. Lieber sei ihm die Diskussion Auge in Auge, „aber wir müssen darauf reagieren, sonst verlieren wir die Menschen“.

SPD-Bewerber bemüht sich redlich

Komplexe politische Inhalte in 30 Sekunden vermitteln? Migration, Arbeitslosigkeit, ärztliche Versorgung? „Ja“, sagt Reinhardt, der bekennt, seine Partei habe lange „den Trend verschlafen“. Auch in drei bis fünf Minuten könne man Themen mit inhaltlichem Tiefgang präsentieren. So erkläre er in einem dreiminütigen Video, wie eine Wärmepumpe funktioniert, und sein Post über Kernfusion sei eine halbe Million Mal aufgerufen worden. „Ja“, sagt auch Diener, 30 Sekunden über die Aktienrente oder die Schuldenbremse seien eigentlich zu wenig. „Aber um 3000 Leute zu erreichen, die sich das angucken, müsste ich lange an einem Marktstand stehen.“ Und wenn die vorproduzierten Videos über Wirtschaftsthemen zurzeit keiner gucken wolle, dann müsse man eben noch „ein bis zwei zum Thema Migration drehen“.

Ob das zum Wahlerfolg beiträgt? „Mehr als bei den vorherigen Wahlen“, glaubt Brodesser. „Ja“, sagt Jan Köstering: „Die Linke verzeichnet gerade eine stark wachsende natürliche Community, also nicht mit bezahltem Content.“ Angesichts der Altersstruktur – es gibt zehnmal so viele neue Rentner wie Schulabgänger – spiele Social Media wohl eine geringe Rolle, glaubt Reinhardt. Die Alten seien mehr, ihre Stimmen entscheide die Wahl, und sie seien nicht unbedingt die Zielgruppe. So fremdelt selbst der 31-jährige Sebastian Diener und fühlt sich „zu alt für Facebook und Tik-Tok“. Und Köstering (27) gesteht, „ein bisschen überfordert“ zu sein. „Vielleicht beeinflusst Social Media die Wahl über Bande – denn irgendwann landen die Inhalte auch in den ,normalen‘ Medien“, überlegt Reinhardt.

Was tun? Dem Trend hinterherlaufen? Besser werden, da sind sich alle einig. Ein Gegengewicht schaffen gegen die Flut der AfD-Posts. Ein Problem seien dabei die Algorithmen, stellt Reinhardt fest. Sie entscheiden, was gepuscht und was gelöscht wird. So seien seine Beiträge über den Holocaust und psychische Erkrankungen zurückgezogen worden. „Wer sich die Beiträge der AfD anguckt, befindet sich plötzlich in einer rechten Bubble und wird damit überschüttet“, hat Köstering bemerkt.

„Plötzlich gibt es gefühlt nur noch die AfD“, sagt Sabine Grützmacher, Kandidatin der Grünen. „Aber Social Media ist nicht das alles Entscheidende.“ Und mit der Wahl sei ja ihr Einfluss keineswegs vorbei. Russische Bots und Fake-Accounts auf X, Desinformationskampagnen mit dem Ziel, Deutschland und die Demokratie zu destabilisieren, gefakte Inhalte, Falschmeldungen über Gesetze, die es nicht gebe, gefälschte Ergebnisse von Studien, die Schwierigkeit, bei KI zu erkennen, was stimmt und was nicht: „Da brauchen wir dringend Verbote und Regulierungen. Viel wichtiger ist die Rolle von Social Media für die Sicherheit in unserem Land.“


Reul kommt zum Wahlkampffinale

NRW-Innenminister Herbert Reul kommt auf Einladung der CDU Oberberg am kommenden Samstag, 12 Uhr, zu einer Wahlkampfveranstaltung auf den Gummersbacher Lindenplatz. Er soll unter anderem zum Thema Innere Sicherheit sprechen. In der Innenstadt gibt es davor und danach ein Bühnenprogramm mit Livemusik und Wissenswertem zur Wahl.