Die Eltern der elfjährigen Myrna, die in Leverkusen im Oktober von einem Lkw überfahren wurde, wollten die Organe ihrer Tochter spenden. Sie durften es aber nicht.
Nun klagen sie an: Warum ist so etwas nicht möglich, obwohl so viele Menschen dringend auf neue Organe warten?
Welche Regeln für solche Fälle gelten, wie die Eltern mit der Situation umgegangen sind und wie der Kompromiss aussah, erfahren Sie bei uns.
Leverkusen – „Ein dreijähriges Mädchen und ein neunjähriger Junge sehen jetzt mit Myrnas Augen.“ Myrnas Mutter aus Leverkusen sagt diesen Satz, der ihrer Familie sehr viel bedeutet. Aber er steht auch für ihren kräftezehrenden Kampf gegen bürokratische Hürden, die sie beim Thema Organspende erlebte. Für freiwillige Spender werden derzeit die Trommeln im ganzen Land geschlagen. Myrnas Familie hätte gerne unterstützt. Am Totenbett ihrer elfjährigen Tochter sprachen die Eltern den zuständigen Arzt im Leverkusener Klinikum von sich aus an: Sie waren bereit, alle Organe ihres verunglückten Kindes zu spenden. Doch das ging nicht.
Nach dem Verkehrsunfall, bei dem Myrna am 11. Oktober zu Tode kam, war der Leichnam beschlagnahmt worden. Ein 28-jähriger Lkw-Fahrer hatte Myrna auf dem Schulweg am letzten Tag vor den Herbstferien auf ihrem Fahrrad unweit ihres Elternhauses an einer Tankstellenausfahrt erfasst und mitgeschleift.
„Wir mussten den Arzt dazu drängen, dass zumindest eine Teilfreigabe erfolgte, so dass wenigstens noch die Hornhäute der Augen unserer Tochter gespendet werden konnten“, schrieben die Eltern nun an Gesundheitsminister Jens Spahn. In der unfassbaren, traumatischen Situation hätten sie „die volle Breitseite der Bürokratie“ erfahren. Kurz nach dem Tod ihrer Tochter habe das wie ein zusätzlicher Keulenschlag auf sie gewirkt. Vom Gesundheitsminister wünschen sie sich Antworten.
Er solle Wege aufzeigen, „wie solche lähmenden Systeme überwunden werden können.“ Bislang habe Bundesminister Spahn auf ihren Brief noch nicht reagiert. Von der Klinik in Köln-Merheim erhielt die Familie ein Dankesschreiben, in dem sie darüber informiert wurde, dass die gespendeten Hornhäute an ein dreijähriges Mädchen und einen neunjährigen Jungen gingen.
„Das ist nicht das Kind von der Tankstelle“
Myrnas Mutter will keine Publicity, keine Namen, will nicht gegoogelt werden, nicht angerufen. Für ihre Tochter legt sie aber Wert darauf, dass ihr Name bekannt ist. „Das ist nicht das Kind von der Tankstelle“, sagt sie. Myrna ist irisch und steht für lieb, sanft. Die Schwester hat nach dem Unfall dafür gesorgt, dass der Bürgersteig freigeschnitten und von Müll befreit wurde. Eine Gedenkstätte ist entstanden, an der viele Menschen von Myrna persönlich Abschied nahmen. Vorübergehend sollen die Grablichter und Plüschtiere und Gedenksteine abgebaut werden, da die Stadt Leverkusen die Tankstellenausfahrt am Willy-Brandt-Ring verändern will. Dauerhaft will die Familie mit einem weißen Ghost-Bike auf die Gefahr aufmerksam machen und an Myrna erinnern.
Und sie will zeigen, was ihrer Ansicht nach in der Debatte über Organspende in Deutschland schief läuft: „Die sollen nicht immer nur sagen, dass es zu wenige Spender gibt. Das halten wir nach dem, was wir erlebt haben, für widersinnig. Es ist abstrus, dass wir als Eltern selbst aktiv werden mussten.“ Der Leverkusener Bundestagsabgeordnete Karl Lauterbach erinnert sich am Telefon sofort an den Unfall im Oktober. Aus seiner Sicht „hätte der Wunsch von Myras Eltern respektiert werden müssen. Der Unfallhergang war in diesem tragischen Fall ja klar, eine Obduktion hätte keine neuen Erkenntnisse darüber ergeben.
In solchen besonderen Ausnahmefällen sollte das Gericht vielleicht darauf verzichten, eine Obduktion anzuordnen.“ Grundsätzlich sei die gesetzliche Regelung, Unfallopfer, bei denen eine Obduktion notwendig ist, von der Organspende auszuschließen, aber richtig.
„Alle Patienten, die einen unnatürlichen Tod erleiden, müssen der Staatsanwaltschaft gemeldet werden. Die Staatsanwaltschaft untersucht ein Fremdverschulden und entscheidet dann, ob der Leichnam zur Beerdigung oder gegebenenfalls zu einer Organ- oder Gewebespende freigegeben werden darf“, erklärt Sandra Samper-Agrelo, Pressesprecherin des Klinikums Leverkusen. Ein ähnlicher Fall, dass Angehörige Organe spenden wollten, dieses aber aufgrund der Beschlagnahmung verweigert werden musste, sei am Klinikum noch nicht vorgekommen.
Die Teilfreigabe, die der Arzt im Telefonat mit dem Staatsanwalt erwirkte, sei nur möglich gewesen, da es sich um gespendetes Gewebe, nicht um Organe gehandelt habe. „Es tut uns sehr leid und es ist schade, dass sich die Familie nicht so gut betreut gefühlt hat. Die Situation war für alle aufwühlend, die Ärzte haben das nicht vergessen.“ Von der Politik gebe es keine Regeln über das Gespräch zur Organspende. Gerhard Gräf, Transplantationsbeauftragter am Leverkusener Klinikum, erklärt: „Das Ansprechen des Themas einer Organ- oder Gewebespende von akut Verstorbenen muss zum ungünstigsten Zeitpunkt in dem ungünstigsten Lebensabschnitt der Verwandten erfolgen, die sich frisch mit dem Ableben eines in der Regel geliebten Menschen beschäftigen. Unsere Politiker haben es leider versäumt, mit Einführung der Widerspruchslösung eine Lösung zu generieren: Jeder hätte zu Lebzeiten bei vollem Bewusstsein und in Ruhe über die Organspende entscheiden können.“
„Wir bedauern solche Umstände sehr“
Myrnas Gewebespende in der Ambulanz sei ein Novum für das Klinikum gewesen, „und ist auch unüblich in anderen Kliniken“. Auch bei der Deutschen Stiftung Organtransplantation DSO ist man einigermaßen ratlos: „Wir bedauern solche Umstände sehr. Solche Entscheidungen liegen jedoch nicht in unserem Verantwortungsbereich“, erklärt DSO-Sprecherin Nadine Körner. „Wir wissen es sehr zu schätzen, wenn Eltern eines verunglückten Kindes Organe spenden möchten. Eine solche Entscheidung verdient aus unserer Sicht eine sehr hohe Anerkennung und Würdigung. Und sicher ist es gerade dann noch einmal besonders belastend und enttäuschend, wenn eine Organspende dann aus bestimmten Gründen nicht so möglich ist, wie die Eltern sich diese gewünscht hätten“, erklärt Körner.
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An jeder Straße ist es plakatiert. „Organspende rettet Leben. Werde auch du zum Superhelden.“ Zum kurzärmeligen Hemd ist das Papier des Spenderausweises in der Kampagne der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) gefaltet. „Egal, wie Sie ihn tragen, Hauptsache Sie haben ihn: Den Organspendeausweis.“ Über 9000 Menschen warten bundesweit auf ein Spenderorgan. Jeden Tag versterben im Schnitt zweieinhalb Personen von der Warteliste an ihren Grunderkrankungen. Von den Spendern, so die BZgA, werden im Schnitt 3,3 Organe entnommen.
„Wir stellen uns dauerhaft die Frage, wie viele weitere Kinderleben hätten gerettet werden können, wenn wir nicht davon abgehalten worden wären. Es hätte für uns einen sehr tröstlichen Gedanken gehabt, noch etwas Gutes mit dem sinnlosen Tod unserer Tochter zu tun“, erklärt Myrnas Mutter.
Die Familie will etwas bewegen und wünscht sich, dass sich auch im Interesse der Ärzte etwas ändert, die ebenfalls an der Bürokratie leiden. „Es ist die Frage, wie man mit dem Thema umgeht.“ Die Mutter will die Ärzte, die sie betreut haben, nicht angreifen. Aber medizinisches Personal sollte bundesweit über Möglichkeiten der Organspende besser informieren können. „Es wäre wünschenswert, dass diesbezüglich die Bürokratie geändert und entschlackt wird.“