Bonn – Die Analyse ist klar: Wir bewegen uns „mit zunehmender Geschwindigkeit auf einen Kollaps der Systeme und auf einen Zusammenbruch der Gesellschaft“ hin. Sagt Wolfgang Picken. Der Mann ist Leitender Pfarrer in Bad Godesberg, designierter Bonner Stadtdechant und Münsterpfarrer und sollte als katholischer Seelsorger eigentlich tröstende Worte der Hoffnung verbreiten. Das tut er zwar, aber erst legt er in seinem neuen Buch „WIR – Die Zivilgesellschaft von morgen“ offen, wo es seiner Meinung nach hakt in unserem Land .
Ehe, Familie, Partnerschaften; Bildung von Kindern und Jugendlichen; Notstand in der Altenpflege; fehlende Solidarität; Flüchtlingshilfe – überall sieht Wolfgang Picken Defizite. Das Buch hat der Theologe und promovierte Politikwissenschaftler geschrieben, als er noch nicht für den Posten in Bonn bestimmt worden war, aber man kann es durchaus als Programm lesen für das, was er ab dem 1. März in dem neuen Amt anpacken will.
Eines der größten Probleme sieht er in der Versorgung von Alten und Pflegebedürftigen. Gesundheitsminister Jens Spahn hat erkannt, dass Deutschland da auf eine Krise zulaufe. Picken stellt dagegen fest: Wir laufen nicht auf die Krise zu, sie ist schon da. Die meisten Pflegeleistungen werden von Familienangehörigen erbracht, weil aber der familiäre Zusammenhalt bröckelt – Stichworte: immer mehr Singlehaushalte, eine Scheidungsrate von 40 Prozent –, werden auch immer weniger Familienmitglieder da sein, die sich um Pflegefälle kümmern. Der Buchautor: „Alleinsein ist ein Alternativmodell mit erheblichen Risiken“.
Da viele Eltern nach der Geburt eines Kindes weiterhin berufstätig bleiben wollen oder müssen, werden viele Jungen und Mädchen bereits ab einem halben Jahr in eine Kita gegeben – nicht ohne Folgen. Pfarrer Picken beobachtet in den Kindergärten in seiner Gemeinde, dass gut die Hälfte der Kinder einen zusätzlichen Förderbedarf haben. In gesellschaftlichen Gruppen und Milieus fällt ihm eine wachsende Polarisierung auf, auch in Bad Godesberg, das für den örtlichen Pfarrer „ein Brennglas der Bundesrepublik“ ist. Nirgendwo sonst in Deutschland sei die Spanne zwischen Arm und Reich auf engem Raum so groß wie in dem 75 000 Einwohner zählenden Stadtbezirk.
Diese Ränder der Gesellschaft wurden besonders sichtbar, nachdem im Mai 2016 der 17-jährige Niklas P. am Bahnhof zu Tode geprügelt worden war. Es hatte bereits vorher solche Gewaltexzesse gegeben, aber jetzt hatten sie ein Menschenleben gefordert. Die Spannungen zwischen den Milieus entluden sich am Bahnhof, der die Grenze bildet zwischen den gut situierten Bürgern im Villenviertel, in Plittersdorf oder Rüngsdorf und den abgehängten Einwohnern jenseits der Bahnlinie.
„Suppenhimmel“
für die Hungrigen
Was also tun, um den Krisenmodus wieder zurückzuschalten? Soll es der Staat richten? Pfarrer Picken: „Dann werden wir scheitern“. Gerade die Kommunalpolitik, die ja sehen müsse, was vor Ort los ist, „erstarrt in seit langem etablierten Strukturen“. Diese etwas abwertende Sicht auf den Staat hält der ehemalige Bundesverfassungsrichter Professor Udo di Fabio, der das Vorwort zu dem Buch geschrieben hat, für diskussionswürdig. Der Staat sei eben kein beliebiger, nur gleichrangiger Akteur, meint di Fabio; er teilt jedoch die Idee des Autors, dass es ein „konstruktives Bündnis“ zwischen privatem Raum und öffentlichen Bühnen geben müsse.
Das ist Pickens Ansatz: Die großen Problemstellungen ließen sich nur lösen, indem man ihnen ein WIR entgegenstellt, das er ausdrücklich in Großbuchstaben schreibt. Soll heißen: eine „große Koalition der Vernünftigen quer durch die ganze Gesellschaft“. Er hat 2005 ein solches „konstruktives Bündnis“ mit der Bürgerstiftung Rheinviertel geschaffen, auf die er in seinem Buch immer wieder als Beispiel verweist.
Sie begleitet die Menschen von der Geburt bis zum Tod, unterhält Kitas, Hospiz, Familienzentrum, Palliativdienst, Beratungsstellen und auch ein Mausoleum, kümmert sich um Jugendarbeit, hat Klöster angesiedelt und gibt im „Suppenhimmel“ mitten in der City Hungrigen zu essen. Diese Stiftung kann erfolgreich arbeiten, weil sie einen Netzwerker wie Picken an der Spitze hat, der sich nicht scheut, bei Unternehmern und Handwerkern in seinem Viertel zu klingeln und um Unterstützung zu bitten. Viele öffnen nicht nur ihre Geldbörse, sondern arbeiten aktiv in der Stiftung mit. So wurden in Bad Godesberg Dinge allmählich verändert, „eine neue Form von Zivilgesellschaft“ ist entstanden. Das stimmt auch den nüchternen Analytiker hoffnungsfroh.
Wolfgang Picken: WIR – Die Zivilgesellschaft von morgen“, Gütersloher Verlagshaus, 18 Euro.