Bonn – Es war der Tag, an dem Picasso, 92-jährig an den Folgen eines Herzinfarkts gestorben, im Garten seines Schlosses Vauvenargues in Südfrankreich beigesetzt wurde. Doch der Tod des Malers interessierte in Bonn allenfalls das Feuilleton. Denn in der Bundeshauptstadt tobte der Mob: Etwa 60 Vermummte stürmten am 10. April 1973 das Alte Rathaus, ließen rote Fahnen aus den Fenstern wehen, verwüsteten Räume und warfen Inventar, Papier und Flaschen auf die Straßen. „Das ist die Anarchie“, schrieb eine Zeitung.
Irrtum: Die Aktion war genau geplant worden von einer maoistischen Gruppe mit dem Traditionsnamen KPD (Kommunistische Partei Deutschlands), die aus der Studentenbewegung der 68er hervorgegangen war. Diese radikale Splitterpartei wollte ihre Bedeutung in der linken Szene erhöhen – da kam ihr der für diesen Tag angekündigte Kurzbesuch des Präsidenten von Südvietnam, General Thieu, in Bonn gelegen. Er galt wegen des Vietnamkriegs als „Marionette der USA“ und war Hassfigur vieler Linker, die mit dem Vietcong sympathisierten.
Flugs wurde von mehreren Vereinigungen, unter anderem vom Verband deutscher Studentenschaften (VDS), eine Massendemonstration gegen den Staatsgast organisiert. In deren Schatten plante die Führung der KPD den Sturm auf das Rathaus. Sie schickte gut vier Wochen zuvor einen Kundschafter in den Renaissancebau, der sich die Lage der Räume in der ersten Etage gut merken, eine präzise Zeichnung machen und sie einem „Genossen Hubert“ übergeben sollte.
Ein der KPD nahestehender Jurist bezog am 10. April Posten am Telefon eines Anwaltsbüros, wo er Anrufe von festgenommenen Demonstranten entgegennehmen sollte. Sie waren angewiesen worden, sich die Nummer der Kanzlei auf einen Zettel zu notieren oder mit Kuli auf den Unterarm zu schreiben. In der Universität standen ein Arzt und ein Sanitäter bereit, verletzten Linken Erste Hilfe zu leisten.
Die Polizei rechnete mit Demonstrationen vor der südvietnamesischen Botschaft in Bad Godesberg und hatte dort die Einsatzkräfte zusammengezogen – ein Fehler. Denn die Protestler versammelten sich ab 9 Uhr auf dem Markt, am Ende waren es mehr als 2000. Die Sprecher der Stadt, Renate Dittrich und Friedel Frechen, sahen das vom Fenster aus und baten die Polizei telefonisch um Schutz – vergeblich. Hilferufe dürften nur vom Oberbürgermeister, vom Oberstadtdirektor oder vom Sicherheitsbeauftragten der Verwaltung ausgesendet werden, behauptete der NRW-Innenstaatssekretär Heinrich Stakemeier am Abend .
Die Polizei hätte indes Bescheid wissen müssen: Auf dem Markt wurden schon am Morgen Flugblätter mit der Ankündigung des Rathaussturms verteilt, ein Mann brüllte Parolen in ein Megafon, junge Leute, offensichtlich nicht von der Stadtreinigung, zogen Mülltonnen vor der Rathaustreppe zusammen und schlugen mit Holzknüppeln darauf.
Der Trommelwirbel war das Signal zum Angriff. 50, 60 Menschen hetzten die Stufen zum Eingang hoch, Holzstangen mit Transparenten in der Hand, und drangen ins Haus ein. Den entsetzten Beamten, die ihnen entgegenkamen, wurde zugerufen, sie sollten nach Hause gehen und sich „einen schönen Tag“ machen.
Zeugen berichteten, die Besetzer hätten Beile, Brecheisen und Feuerlöscher dabeigehabt. „Die Politrocker“, schrieb eine Zeitung, „hausten wie die Berserker.“ Im Fraktionszimmer der FDP versteckte sich die Frau des Fraktionsvorsitzenden verängstigt unter einem Tisch. Der Gobelinsaal, in dem Oberbürgermeister Peter Krämer Staatsgäste zu empfangen pflegte, bot nach der Attacke ein Bild der Verwüstung, Fensterscheiben waren zu Bruch gegangen, zwei Kronleuchter durch Steinwürfe beschädigt. An die Wände wurden Schmähparolen geschmiert. Der Schaden wurde am Abend auf 500.000 Mark beziffert, die Summe aber später auf 120.000 Mark heruntergerechnet.
So schnell, wie sie gekommen waren, verschwanden die „Vandalen“ (so Bundeskanzler Willy Brandt) wieder und tauchten in der Masse der Demonstranten unter. Diese waren zu Tausenden aus 22 Städten teilweise mit Bussen angereist. Auf der Rathausgasse und dem Markt lieferten sie sich Kämpfe mit der erst eine Stunde nach dem Sturm angerückten Polizei.
Pflastersteine und Obst flogen, Schaufensterscheiben gingen zu Bruch. Die Polizei setzte Wasserwerfer und Tränengas ein, es gab auf beiden Seiten mehr als 50 Verletzte. 120 Protestler wurden festgenommen und wieder entlassen – bis auf einen: Pädagogikstudent Ulrich K. (25) aus Lüneburg sollte einen Polizisten mit einer Eisenstange niedergeschlagen und schwer verletzt haben. Das Amtsgericht Bonn erließ Haftbefehl wegen versuchten Totschlags und Widerstands in besonders schwerem Fall.
Der Prozess sollte am 15. Oktober 1973 im Schwurgerichtssaal 113 des Bonner Landgerichts stattfinden. Der Vorsitzende Richter Walter Schmitz-Justen hatte bereits die Ladungen verschicken lassen, als die Polizei Bedenken äußerte. Wegen erwarteter Demonstranten sei das Gericht nicht sicher, der Prozess müsse in der Rosenburg in Kessenich stattfinden.
In der 1831 errichteten Villa hatte das Bundesjustizministerium seinen Sitz. Der Richter fügte sich.Die Ordnungskräfte schätzten die Lage als so brisant ein, dass Schmitz-Justen Polizeischutz bekam. Während der Dauer des Verfahrens wurden er, seine Frau und drei Söhne rund um die Uhr bewacht. Das sei „ein cooles Event“ gewesen, erinnert sich der älteste Sohn Christian Schmitz-Justen, damals 17 Jahre alt und heute Vizepräsident des Oberlandesgerichts Köln.
Personenschützer brachten Richter-Kindern das Pokern bei
Die Polizisten hätten den Kindern das Pokern beigebracht und sie wurden mit einem Streifenwagen zur Schule gebracht: „Das war imagefördernd.“ Damit der Wachhabende, der die Nacht in einem Sessel verbringen musste, nicht einschlief, hatte Vater Schmitz-Justen einen Fernseher gekauft. Die Mutter, heute 98 Jahre alt, habe die Daueranwesenheit der Beamten nicht so toll gefunden, sie habe sich zurückhalten müssen, in deren Beisein die wilden Jungs verbal zu maßregeln, berichtet Christian Schmitz-Justen schmunzelnd.
Absperrgitter und Polizeiketten sicherten die Rosenburg, als der Schwurgerichtsvorsitzende das Verfahren am 15. Oktober 1973 eröffnete. Die Anklage vertrat Staatsanwalt Martin Dettmann, in den 80er Jahren Ermittler in der Flick-Spendenaffäre; die Verteidigung übernahmen die Rechtsanwälte Hugo Brentzel, Henner Kraetsch und Otto Schily. Der spätere Bundesinnenminister hatte 1971 das RAF-Mitglied Horst Mahler vertreten, der wegen Bankraub und Gefangenenbefreiung angeklagt war. In den Stammheimer Terroristenprozessen verteidigte er Gudrun Ensslin.
Die Folgen der Revolte
Die Staatsmacht ließ sich den Angriff auf das Alte Rathaus nicht gefallen. Im Mai 1973 erwirkte der Generalbundesanwalt Durchsuchungsbeschlüsse für Wohnungen sowie Büros der KPD und zweier angegliederter Gruppen in Dutzenden von Städten. Dabei wurde KPD-Führer Jürgen H. festgenommen, sein Vorstandskollege Christian S. wurde nicht angetroffen.
Beide hatten den Rathaussturm geplant, urteilte die 1. Große Strafkammer des Landgerichts Bonn 1978 in einem Prozess und verurteilte die beiden Angeklagten zu je einem Jahr Freiheitsstrafe auf Bewährung.
1980 löste sich die KPD auf. Jürgen H. gründete 1990 in Bad Honnef einen Verlag und starb 1995. Christian S. arbeitete bis zu seinem Tod 2013 als Journalist. Der Angeklagte Ulrich K. sagte sich in der Haft von der KPD los und sei deswegen, so sein Anwalt Hugo Brentzel, von den früheren Genossen „geächtet“ worden. Brentzel, der 2017 gestorben ist, hatte die Hintergründe der Aktion aufgearbeitet. Seine Frau Marianne Brentzel hat die Recherchen zu Ende geführt und in dem Buch „Rathaussturm“ zusammengefasst. Es ist im Geest-Verlag erschienen und kostet 18 Euro. (dbr)
Schily begann mit einem Donnerwetter in Richtung Richtertisch und rügte die Verlegung des Prozesses in die Rosenburg, das sei Einschüchterung der Öffentlichkeit. Als Zuschauer ein Transparent entrollten, auf dem Freiheit für den Angeklagten gefordert wurde, drohte Schmitz-Justen, den Saal räumen zu lassen. Einen Zwischenrufer ließ er von der Polizei entfernen. Als der Angeklagte endlich zu Wort kam, hielt er einen vierstündigen Vortrag, in dem er wiederholt den Imperialismus angriff.
Acht Mal ließ der Vorsitzende den Saal räumen
So ging das während der gesamten zwölftägigen Verhandlung weiter: Wortgefechte zwischen Verteidigung und Staatsanwalt, Zwischenrufe und Applaus aus dem Publikum, insgesamt acht Mal ließ der Vorsitzende den Saal räumen. So auch, als Staatsanwalt Dettmann 18 Monate Freiheitsstrafe für K. forderte – und das Plädoyer mit lauten Buhrufen kommentiert wurde. Die drei Verteidiger beantragten Freispruch; allein das Plädoyer von Otto Schily dauerte 90 Minuten.
Am 14. November 1973 schließlich – an diesem Tag heiratete in der Westminster Abbey in London die britische Prinzessin Anne den Hauptmann Mark Philipps – sprach das Schwurgericht sein Urteil: K. musste wegen gefährlicher Körperverletzung und Widerstandsleistung für ein Jahr ohne Bewährung in Haft.
Nach den ersten Worten Schmitz-Justens folgten erneut Tumulte; er verurteilte vier Störer vom Fleck weg zu Ordnungsstrafen von zwei bis vier Tagen Haft und setzte dann zur Urteilsbegründung an. Einen Tötungsvorsatz, wie angeklagt, habe die Kammer nicht erkennen können. Eine Bewährungsstrafe wollte sie K. dennoch nicht zubilligen, weil „seine Gesinnung rechtsfeindlich“ sei. Der Angeklagte habe den Prozess auf die Sphäre der Weltpolitik hochheben wollen. Doch: „Hier geht es nicht um Politik, sondern um eine Eisenstange und die mit ihr begangene Tat.“
Verteidiger Hugo Brentzel nannte das Urteil Jahre später in einem Gespräch mit Schülern des Collegium Josephinum Bonn „unverhältnismäßig hoch“, aber ein Freispruch wäre „damals wohl kaum durchsetzbar gewesen“. Dem Vorsitzenden Richter attestierte der Anwalt, er habe den Prozess „ganz gut in den Griff bekommen“.