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Teil eins: Der Dachdecker vom Kölner Dom

Lesezeit 6 Minuten

Der Dachdeckermeister des Domes in Köln, Hans Tanzyna, steht in Köln im Dachfirst des Domes.

Köln - Hans Tanzyna verbringt seine Tage in einer Traumwelthoch in der Luft. Er turnt über Schluchten, Spalten und Klüften undhangelt sich von Zinne zu Zacken. Über ihm türmen sich Strebebögenund Pfeiler, umrankt von gemeißelten Blumen und Laubwerk.Fratzenhafte Dämonen scheinen nach ihm zu greifen: ein Monster, daseinen nackten Jungen verschleppt, ein Werwolf, der seine Krallen inden Rücken eines schreienden Mannes schlägt. Tanzyna arbeitetzwischen Himmel und Erde: Er ist Dachdecker auf dem Kölner Dom.

Karl May hätte sein Gesicht wohl als "wettergegerbt" beschrieben.Man sieht ihm an, dass er sich immer im Freien bewegt. Dazu trägt ereinen verschlissenen Pullover und raucht Selbstgedrehte der Marke"Old Holborn". Schon über dreißig Jahre arbeitet er hier oben."Natürlich hätte ich nie gedacht, dass ich mein Leben auf dem Dachdes Kölner Doms verbringen würde." Zumal er von weit her kommt, ausSchlesien. In Racibórz - dem früheren Ratibor - wurde er vor 57Jahren geboren.

Mit seiner Arbeit wird er nie fertig werden, denn das Dach desKölner Doms ist 12 000 Quadratmeter groß. "Wir können uns immer nurdas vornehmen, was richtig wichtig ist", sagt Tanzyna. Sie sind janur zur viert. "Wenn man das ganze Kapellendach erneuern würde, dannwürde das mit vier Leuten so lange dauern, dass unser jüngsterMitarbeiter, der jetzt 23 ist, dann in Rente gehen würde." Ist dasnicht frustrierend? "Zumindest haben wir sichere Arbeitsplätze."

Wie ein Bergsteiger angeseilt und mit einem Fuß auf einemVorsprung abgestützt, balanciert Tanzyna auf einer Dachschräge übereinem fünfzig Meter tiefen Abgrund und bearbeitet mit Klopfholz undSetzholz eine Schadstelle. Das gesamte Dach ist drei Millimeter dickmit Blei belegt, denn Blei ist preiswert, langlebig und Wasserabweisend. "Das Klopfen geht einem mit der Zeit auf den Wecker",erklärt er. "Deswegen hören wir hier immer Musik."

Ohne Radio ist es still hier oben, siebzig Meter über dem Boden.Außer einem fernen Rauschen - dem Autoverkehr - hört man nur denRegen und den Wind. Wie aus den Spalten einer Felsspitze wachsen invielen stillen Winkeln dieses Gebirges von Menschenhand Gräser, Farneund Sträucher. Im Frühjahr und im Sommer bringen sie richtig Farbe indie schwarzgraue Gesteinsmasse: Dann blühen roter Klatschmohn undweiß-violettes Zimbelkraut, Weidenröschen, Löwenzahn und einBrombeerstrauch. Sogar einige Exoten haben einen Platz gefunden: Derursprünglich in China beheimatete Bocksdorn gehört dazu und ebensodas erst vor etwa 50 Jahren in Europa heimisch gewordene Greiskrautaus Südafrika. 1974 wurde auf dem Domdach eine sechs Meter hohe Birkegefällt.

Nicht nur die Bleibahnen müssen immer wieder ausgebessert werden.Auch sonst gäbe es auf dem Domdach noch unendlich viel zu tun. KeinMeter ist hier unbebaut, alles wurde von den Baumeistern desMittelalters bis ins Letzte durchgeplant und mit insgesamt 11 000Zinnen und Türmchen besetzt. Eine Zauberlandschaft, die zwar mittenin der Großstadt liegt, den Blicken aber dennoch verborgen bleibt.Wozu diese ungeheure Prachtentfaltung, wo doch das meiste vom Bodenaus gar nicht zu sehen ist? "Der Dom ist doch nicht für die Menschengebaut worden. Der ist für Gott."

Tanzyna kennt die entlegensten Winkel dieses Labyrinths, durch daser sich auf Leitern und Treppen, über Wandelgänge und schmaleKorridore bewegt. "Schauen Sie mal dort", sagt er plötzlich und zeigtnach oben. "Das Türmchen da, das hat sich durch einen Bombeneinschlagim Krieg verschoben und steht jetzt nur noch auf dem Rand desSockels. In so einem Fall sagen wir: "Das fängt an zu tanzen.""

In den letzten drei Kriegsjahren wurde der Dom von 14 schwerenFlugbomben und 19 Artilleriegranaten getroffen, mehrere Gewölbebrachen zusammen. "Im Krieg sind die Gerüstbauer hier mit derGießkanne hergelaufen und haben das Feuer gelöscht." Eine ganze Reihevon Treffern ist bis heute zu sehen: Ein Türmchen liegt noch immer inder Spalte, in die es einst gestürzt ist, in einer Mauer klafft eingroßes Loch, und auf mehreren Pfeilern sind noch abgefalleneBleiplatten aufgespießt. "Dazu sind wir einfach noch nicht gekommen",sagt Tanzyna. "Naja, bis heute hält es. Viele Sachen tun richtig weh,die müssen als erstes gemacht werden."

Ein anderer Tag. Diesmal ist Tanzyna nicht aufzufinden. "Muss aberirgendwo sein", sagt sein Kollege Joachim Kurowski. Mit demLastenaufzug der Dachdecker und Steinmetze fährt er die Nordfassadedes Doms hinauf. Nichts für Leute mit Höhenangst. Der Aufzug rumpeltan der Außenwand himmelwärts, vorbei an Strebebögen, Pfeilern undZinnen.

Rechts und links schauen überlebensgroße Figuren durch dieScheiben. Am auffälligsten ist ein Mann mit einem Arbeitshelm: Hierhaben die Steinmetze ihrem früheren Betriebsratsvorsitzenden HeinrichWingender ein Denkmal gesetzt. Auch Fußballspieler des 1. FC Köln,ein fülliges Funkemariechen und ein ganzer Karnevalszug samtDreigestirn sind in luftiger Höhe verewigt. Sogar der einstigesowjetische Staatschef Nikita Chruschtschow wurde Teil derkatholischen Kathedrale, auf ewig konferierend mit US-Präsident JohnF. Kennedy, dem französischen Präsidenten Charles de Gaulle und dembritischen Premierminister Harold Macmillan. Anfang der 60er Jahreerlaubten sich Mitarbeiter der Dombauhütte diese Scherze aus Stein.So hoch hinauf kommt ja doch niemand, werden sie sich gedacht haben.

Augenblicke später steht Kurowski im 1990 angelegtenAufenthaltsraum für die auf dem Dach tätigen Handwerker.Aufenthaltssaal wäre wohl eine angemessenere Bezeichnung. Über denbilligen Schränken und Tischen erhebt sich der gewaltige Dachstuhldes Doms. Etwa 30 Jahre vor dem Bau des Eiffelturms entstanden, ister eines der bedeutendsten Zeugnisse des frühen Eisenbaus. Als er1860 über den Gewölben des Lang- und Querhauses montiert wurde, warer allerdings umstritten: Viele meinten, der Dachstuhl des Doms müssewie im Mittelalter aus Holz konstruiert werden. Ob er dann allerdingsdie Bombentreffer im Weltkrieg überstanden hätte, ist fraglich.

Immer noch keine Spur von Tanzyna. "Aber er war hier", sagtKurowski und zeigt auf nasse Fußabtritte auf dem Boden. Nun geht eshinter die Kulissen des Doms, durch ein Gewirr von Gängen,Wendeltreppen und Dachböden. Manchmal bietet sich von einem Balkonoder einer Galerie aus plötzlich ein Blick hinunter in den Dom - ganzklein sieht man dann die Touristen durchs Kirchenschiff schreiten.Dann wieder macht der Gang eine scharfe Biegung, und es geht nachdraußen in den Regen. Die Wasserspeier machen ihrem Namen an diesemTag alle Ehre: Ganze Sturzbäche ergießen sich aus dem geöffneten Mundeines vornübergeneigten Ritters oder aus der Schnauze eines wildenZiegenbocks. Das Regenwasser möglichst schnell abzuleiten, ist fürdie Erhaltung des Doms wesentlich: "Steter Tropfen höhlt den Stein" -das wusste man auch schon im Mittelalter.

An manchen Stellen muss man leise sein: Was oben auf dem Dachbodengesprochen wird, kann bei geöffneter Tür zur Wendeltreppe unten imDom von den Besuchern gehört werden - so gut ist die Akustik.Schließlich findet sich auch Tanzyna. Er steht auf einem derDachböden vor einer Pfütze - es regnet durch. "So ein Riesendach kannman gar nicht überall dicht halten", sagt er. Was ihm mehr Sorgenbereitet, sind einige feine Risse in den Wänden: "Das kommt vom U-Bahn-Bau da unten", sagt er. "Natürlich werden die das bestreiten,die sagen: "Das sind alte Mauern, das hat mit uns nichts zu tun."Aber man merkt manchmal am eigenen Körper, dass der Boden vibriert,wenn die da mit ihrem Riesenbohrer zugange sind."

Bei so einem Wetter steigt auch Tanzyna nicht aufs Dach. Zwar hater in dreißig Jahren keinen einzigen schweren Unfall erlebt - sogarein Mann, der neun Meter tief von einer Leiter fiel, weil erohnmächtig wurde, blieb unverletzt. "Aber man darf nie leichtsinnigwerden", sagt er. "Ich habe keine Angst vor der Höhe, aber denRespekt, den verliere ich nicht."(dpa)