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SchicksalswahlBrandenburgs Ministerpräsident setzt alles auf eine Karte

Lesezeit 5 Minuten
Potsdam: Ein Plakatmotiv ‚Wenn Glatze, dann Woidke‘ im Wahlkampf der SPD Brandenburg mit einem Foto von Ministerpräsident Dietmar Woidke wird auf dem Alten Markt vorgestellt.

Potsdam: Ein Plakatmotiv ‚Wenn Glatze, dann Woidke‘ im Wahlkampf der SPD Brandenburg mit einem Foto von Ministerpräsident Dietmar Woidke wird auf dem Alten Markt vorgestellt.

In der brandenburgischen Landtagswahl wird es zum Entscheidungsduell zwischen dem langjährigen SPD-Ministerpräsidenten Dietmar Woidke und der AfD kommen. Landet die SPD hinter der AfD, ist er weg.

Mit den rockigen Klängen einer E-Gitarre und einer kräftigen weiblichen Stimme am Mikro werden die Besucher empfangen. Vom Grillstand ziehen Rauchschwaden über den staubigen Platz, vor der Getränkeausgabe gibt es bereits einen kleinen Stau. Die zahlreich aufgestellten Bierzeltbänke sind gut besetzt, als SPD-Ministerpräsident Dietmar Woidke den großen Spielplatz in der brandenburgischen Kleinstadt Velten betritt. Seine SPD hat hier zum Familienfest eingeladen, zum 13. Mal schon, immer wenn die Sommerferien vorbei sind und die Einschulungen beginnen.

Mit seinen 1,96 Metern überragt er alle, die ihn empfangen. Der SPD-Spitzenkandidat hat die Ärmel seines hellblauen Hemdes hochgekrempelt, begrüßt die Leute mit Handschlag. Woidke geht um die Tische, besucht die Hüpfburg und spricht die Mütter und Väter direkt an. Fragt auch die Kleinsten, wie es geht und wo es drückt. „Der Charly hat mit dem Spielzeug auf mich geschmissen“, sagt ein Junge, der für das Ponyreiten unter schattenspendenden Bäumen ansteht. „Hast Du ihn zur Rede gestellt?“ fragt der Regierungschef. Der kleine Kerl druckst ein wenig herum. „Das kannst Du klären, das wird schon“, spricht ihm Woidke Mut zu.

Dietmar Woidke: Optimist und Evangele

Er sei von Haus aus Optimist, sagt Woidke, „ein fröhlicher Evangele“. In diesem Wahlkampf kämpft der 62-Jährige um jede Stimme mit großer Leidenschaft. Für seine Ansprache nimmt er das Mikro der Musiker, damit er überall auf dem großen Gelände zu hören ist. Es gebe nur eine politische Kraft, die es schaffen kann, die Rechten zu stoppen. Das sei gerade die größte Herausforderung.

Die rechtsextreme AfD, Woidke nennt die Partei den „Mitbewerber um Platz 1“, habe im Landtag gerade einen Antrag eingebracht, allen Vereinen die Gemeinnützigkeit abzuerkennen, die sich für Vielfalt einsetzen. Jeder könne sich ausmalen, was das für viele Vereine in den Bereichen Sport, Bildung und Musik bedeute. Gegen das Familien-Entlastungspaket der Landesregierung aus SPD, CDU und Grünen, nach dem unter anderem seit August keine Kita-Beiträge mehr erhoben werden, habe jene Partei geklagt. „Glaubt ihnen nicht!“, ruft der „Lange“, wie er im Land genannt wird, den Leute zu. „Ich werde alles dafür tun, dass Brandenburgs Flagge frei von großen braunen Flecken bleibt.“

Der Ministerpräsident setzt tatsächlich alles auf eine, auf seine Karte. Nur wenn die SPD am 22. September vor der AfD liegt, steht er weiter als Regierungschef zur Verfügung. Nach der aktuellen Umfrage kommt die AfD auf 27 Prozent, die SPD auf 23, die CDU auf 18, das BSW auf 15 und die Grünen auf 5. Die gesamte SPD-Kampagne ist allein auf die große Popularität Woidkes ausgerichtet, der seit 2013 das Land regiert.

Hat das nicht auch einen Hauch von Wählererpressung? Nein, sagt Woidke im Gespräch mit unserer Redaktion. Es gebe keine Hintertür. „Jeder soll wissen, woran er ist.“ Er habe einen Eid geschworen, Schaden von den Menschen und dem Land abzuwenden. „Es ist für mich die größte Herausforderung und eine persönliche Ehre, hier mit aller Kraft und Energie vorn zu stehen.“ Wenn er an dieser Aufgabe scheitere, „werde ich dafür die Verantwortung übernehmen.“

Wahl in Brandenburg: Aufholjagd hat begonnen

Anderthalb Wochen Zeit bleiben noch für eine Aufholjagd. Vor fünf Jahren hat er es schon einmal geschafft. Damals lag die SPD nur bei 18 Prozent, die AfD bei 21. Die Wahl in Sachsen habe ihn zusätzlich darin bestärkt, weil sein CDU-Kollege Michael Kretschmer bewiesen hat, dass ein starker Regierungschef die AfD zumindest in die Schranken weisen kann. Bislang war die SPD in Brandenburg unverwundbar. Es ist das einzige Flächenland, in dem die Partei seit 1990 ununterbrochen den Regierungschef stellt; Woidke ist erst der dritte Ministerpräsident.

Doch von der alten Stärke unter Landesvater Manfred Stolpe und „Deichgraf“, Charmeur Matthias Platzeck ist nur wenig übrig. Dabei ist das Land um Berlin heute wirtschaftlich bestens aufgestellt. Hier werden die höchste Netto-Durchschnitts-Einkünfte Ostdeutschlands erzielt. Durch Firmen wie Tesla und seine mittelständischen Zulieferer, Investitionen etwa der BASF verfügt Brandenburg als eines der wenigen Bundesländer über eine wachsende Wirtschaft.

Das Land gilt unter Wirtschaftsforschern deutschlandweit als erfolgreiches Modell, industrielle Stärke mit Klimaneutralität und erneuerbaren Energien zu verbinden. Nicht nur der E-Autobauer, das große ICE-Bahnwerk in Cottbus und die medizinische Fakultät der Uni Lausitz sind eng mit dem Namen des in Forst an der deutsch-polnischen Grenze aufgewachsenen und dort lebenden Politikers verbunden.

Brandenburg: Es gibt einigen Frust im Land

An den Bierbänken wird auch gefragt, warum Woidke auf die Unterstützung des Kanzlers und von anderen SPD-Bundespolitikern verzichtet hat. „Es geht um Brandenburg“, sagt er freundlich lächelnd mit tiefer Stimme. Das sei nicht nur der SPD-Wahlkampfslogan, sondern ernst gemeint. Aus Berlin sei noch nie Rückenwind gekommen, wenn Wahlen im Land anstanden. Der heftigste Sturm tobte nach Verabschiedung der Hartz-IV-Gesetze unter SPD-Kanzler Schröder. Es sei beeindruckend gewesen, wie sich sein Vorgänger Matthias Platzeck gegen diesen Aufstand stemmte. Und heute? Trotz ausgesprochen guter Wirtschaftslage gibt es viel Frust im Land: im Speckgürtel um Berlin – wozu auch Velten gehört – fehlen Wohnungen, Züge und Busse – Pendler stehen oft im Dauerstau. In den Randregionen fehlen Ärzte, Lehrer, Handwerker und häufig ein schnelles Internet.

Kein Alkohol seit Wochen

Aus den Gesprächen an den Tischen hat Woidke mitgenommen, dass viele Leute nur wenig wissen, was in diesem Land in den letzten fünf Jahren passiert ist. In den Fernsehnachrichten würde Brandenburg kaum vorkommen, und es gebe im Land immer mehr Regionen, in denen man – selbst wenn man wollte – keine Tageszeitung mehr abonnieren könne. Das sei bitter, auch der ständige Streit in Berlin, wo die Regierung eigentlich Vertrauen, Stabilität und Sicherheit ausstrahlen müsste. „Aber Sie werden mich nicht jammern hören.“

Nach über drei Stunden und zahlreichen Gesprächen verlässt er das Veltener Familienfest. Vorher kommt der SPD-Ortsvorsitzende mit dem hiesigen Landtagsabgeordneten und bringt drei Gläser Bier mit. Woidke lehnt dankend ab. Seit Wochen trinkt er keinen Alkohol mehr, hält sich mit Laufen und Rudern fit für diese „Schicksalswahl für Brandenburg“, die auch seine Schicksalswahl ist.