Der CDU-Politiker fordert die Ampel auf, ihr Heizungsgesetz einzumotten und hat einen Vorschlag zur Bekämpfung der Migrationskrise.
Interview mit Jens Spahn„Sie sehen überall die Folgen irregulärer Migrationen“
Tacheles-Interview mit Jens Spahn: Der CDU-Politiker fordert die Ampel auf, ihr Heizungsgesetz einzumotten. Er gibt der Schuldenbremse Ewigkeitsstatus und beklagt, Deutschland sei der Biss abhanden gekommen. Zur Bekämpfung der Migrationskrise ruft Jens Spahn dazu auf, alle Flüchtlinge aus der EU nach Ghana und Ruanda zu fliegen. „Wenn wir das vier, sechs, acht Wochen lang konsequent durchziehen, dann werden die Zahlen dramatisch zurückgehen“, so Spahn.
Herr Spahn, die Ampel spart und hält die Schuldenbremse 2024 ein. Die Wirtschaftsweise Veronika Grimm ist voll des Lobes. Sie auch?
Nein. Die Ampel hat sich von der Stimmung im Land offenbar vollkommen abgeschirmt. Sie macht das Leben beim Heizen, Tanken, Essen und Fliegen teurer. Unterm Strich um fast 20 Milliarden. Das trifft Landwirte, Pendler, kleine und mittlere Einkommen, die von der Rekordinflation ohnehin am stärksten belastet sind. Das ist unsozial und wird den Frust im Land weiter nach oben treiben. Stattdessen das Heizungsgesetz einzumotten, hätte ähnlich viel gespart, aber nur der grünen Partei weh getan. Sonst niemandem.
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Nach der nächsten Wahl wollen SPD und Grüne die Schuldenbremse lockern. Selbst ihr Erfinder Peer Steinbrück sagt: „Sie ist nicht mehr zeitgemäß“.
Die Schuldenbremse beweist gerade, wie zeitgemäß sie ist. Sie macht das, was sie tun soll. Sie zwingt die Ampel-Regierung, Prioritäten zu setzen und nicht Geld auszugeben, als gäbe es kein Morgen, also zu Lasten der nächsten Generation. Wenn die Schuldenbremse in den über zehn Jahren ihres Bestehens gezeigt hat, dass es sie braucht, dann gerade jetzt.
Die Ukraine wäre ohne unsere Unterstützung Putin ausgeliefert, die Bundeswehr ist kaputtgespart, der grüne Umbau der Industrie steckt erst in den Startlöchern. Trotzdem soll Deutschland Spar-Weltmeister bleiben?
Einspruch: Robert Habeck und die Ampel wollen eine grüne Förderrepublik. Ich verstehe nicht, dass der Unmut in der deutschen Wirtschaft nicht noch lauter ist. Am Ende bedeutet das, der Wirtschaftsminister entscheidet durch Subventionen, durch Förderung, wo investiert wird. Aber nicht der Staat muss über Investitionen entscheiden, sondern die Unternehmen. Der Staat muss den Rahmen setzen. Ich teile die Grundthese, der sich der Mainstream angeschlossen hat, nicht, dass es milliardenschwere Zuschüsse für die sogenannte Transformation braucht. Ich möchte, dass wir unsere Wirtschaft in die Lage versetzen, durch niedrige Energiekosten, durch niedrige Steuern, durch weniger Bürokratie, durch mehr Freihandel, durch eigene Stärke, die notwendigen Investitionen selbst zu stemmen.
Warum blockiert die Union dann das Wachstumschancengesetz?
Wir blockieren es nicht. Wir haben die Verhandlungen vertagt, weil es keinen Haushalt für 2024 gibt. Dieses Wachstumschancengesetz ist im Übrigen maximal ein Bonsai-Bäumchen an Wachstumsimpulsen. Allein das Chaos beim Haushalt kostet uns – die These wage ich mal – ein halbes Prozent Wachstum im nächsten Jahr. Das erste Quartal nächsten Jahres wird furchtbar werden in der deutschen Wirtschaft. Die größte Standort- und Rezessionsgefahr ist die Regierung selbst.
Eine Reform der Schuldenbremse, sodass gezielte Zukunftsinvestitionen erlaubt werden, wird es also auch nach der nächsten Bundestagswahl mit der CDU nicht geben?
Nein.
Liegt das Wachstumsproblem womöglich tiefer? Ist uns der Biss abhanden gekommen, um dauerhaft im Vergleich mit den USA und Asien stark genug zu bleiben?
Helmut Kohl hat in den 90er-Jahren vom Freizeitpark Deutschland gesprochen. Wenn ich mich umschaue, halte ich den Begriff zur Beschreibung unserer Probleme nicht für komplett abwegig. Das liegt nicht an den Bürgern und Unternehmen, sondern an falschen Rahmenbedingungen. Allein im Vergleich zur Schweiz, die ich nicht für ein Land der Ausbeutung halte, arbeiten wir im Schnitt 300 Stunden weniger im Jahr. Wir arbeiten nicht so viel produktiver, als dass wir in viel kürzerer Zeit einen vergleichbaren Wohlstand erzeugen können. Das müssten wir aber, um als älter werdende Gesellschaft die Standards in der Rente, in der Pflege, in der Gesundheit, in der Bildung, in der Infrastruktur zu halten.
Dann geht es den Bach runter?
Nein. Im Entwurf für das CDU-Grundsatzprogramm finden Sie die Antworten: Steuerfreie Überstunden. Steuervorzüge für Rentner, die arbeiten. Die Rückkehr von Teil- in Vollzeit belohnen. Und statt grüner Subventionitis endlich Unternehmen bei Investitionen und der Produktionssteigerung unterstützen, damit sie selbst auf neue Technologien setzen. Ich würde mir wünschen, dass der erste Kernfusionsreaktor der Welt in Deutschland gebaut wird. Denn es stimmt: Gerade herrscht der Eindruck, uns fehle der Biss. Dabei müssen wir den Biss nur freisetzen.
Durch Kürzungen beim Bürgergeld?
Wir haben drei Millionen erwerbsfähige Bürgergeld-Bezieher und Abertausende von offenen Stellen, für die es kein Studium braucht: Als Kellner, Spüler, Paketzusteller, Zeitungszusteller, am Flughafen… Deswegen sagen wir im Grundsatzprogramm-Entwurf, wer Jobs als Arbeitsfähiger ablehnt, sollte deutlich weniger Geld bekommen. Das ist eine Gerechtigkeitsfrage.
Das Bürgergeld ist doch kein bedingungsloses Grundeinkommen!
Die Sanktionen sind zu zahm. Es soll sich niemand, der eigentlich für sich selbst und seine Familie zumindest teilweise sorgen könnte, darauf verlassen können, dass die anderen schon für ihn arbeiten gehen. Und das gilt natürlich auch für die stark steigende Zahl an Ausländern bei den Bürgergeldempfängern. Die gesellschaftspolitische Sprengkraft wird vor allem in der SPD noch immer unterschätzt. Ich kenne niemanden, der etwas gegen Leute hat, die nach Deutschland kommen und arbeiten. Deshalb ist es der beste Weg, möglichst viele Menschen in einen Job zu bringen. Und dafür braucht es neben dem Fördern wieder mehr Fordern.
War die Zustimmung der CDU zur Hartz-IV-Reform also ein Fehler?
Ich bin sehr dafür, die Anreize zur Arbeitsaufnahme wieder zu erhöhen, für alle, die arbeiten können.
Die Zahl der irregulären Einreisen ist seit Einführung der Grenzkontrollen drastisch gesunken. Hat die Ampel da was richtig gemacht?
Ja klar, die Grenzkontrollen, zu denen wir Innenministerin Nancy Faeser monatelang gedrängt haben, machen einen Unterschied. Solange es keine europäische Lösung der Migrationskrise gibt, müssen wir an den Kontrollen festhalten, das ist mein dringender Rat an Frau Faeser.
Und wer irregulär eingereist ist, den will die CDU laut Entwurf ihres Grundsatzprogramms nach Ghana schicken. Hört sich nach AfD an...
Migrationsforscher wie Gerald Knaus werben seit Jahren für systematische Lösungen. Und wir bieten zum ersten Mal eine an. Wir wollen jeden Migranten, der irregulär die EU erreicht, in einen sicheren Drittstaat bringen. Mit diesem haben wir entsprechende vertragliche Vereinbarungen, wonach er dort ein Asylverfahren bekommt und im Falle der Schutzgewährung dort sicher bleiben kann. Menschen auf der Flucht vor Verfolgung, Vertreibung und Krieg brauchen einen sicheren Hafen. Den bieten wir an. Der muss aber nicht in der EU liegen.
Eine humanitäre Verpflichtung, Flüchtlingen Schutz in Deutschland zu gewähren, sehen Sie nicht?
Wenn wir sicherstellen können, dass Flüchtlinge in einem sicheren Drittstaat einen sicheren Hafen erhalten, dann ist der Verpflichtung genüge getan. Wir müssen die Botschaft aus der Welt schaffen, dass alle, die irgendwie die EU erreichen, zu nahezu hundert Prozent bleiben können und im Zweifel hier Sozialleistungen erhalten. Denn das können wir nicht durchhalten.
Es gibt keine solchen Abkommen. Ist das nicht eine Scheinlösung?
Nach meinem Wissen hat sich niemand ernsthaft um ein solches Abkommen bemüht. Ruanda wäre wohl dazu bereit. Ghana möglicherweise auch. Auch mit osteuropäischen Ländern wie Georgien, Moldawien sollten wir sprechen. Wenn die CDU diesen Plan in ihrem Grundsatzprogramm beschließt, sind wir die erste Partei mit einem schlüssigen Konzept. Ich bin sehr sicher: Wenn wir zurück in der Regierung sind und uns in Europa dafür stark machen, wird das mehrheitsfähig und mit einer Koalition der Willigen auch umsetzbar. Und wenn die Botschaft durchdringt, werden die Leute nicht mehr Schlepper und Schleuser bezahlen, sich nicht mehr auf diese gefährliche Mittelmeerroute begeben. Dann wird dieses fürchterliche Sterben enden und dann wird das Recht des Stärkeren – es kommen fast nur junge Männer – aufhören. Und dann haben wir auch Kraft, Raum und Ressourcen, um diejenigen aufzunehmen, die unseren Schutz wirklich brauchen. Ich finde das humanitärer.
Derzeit gelangen monatlich tausende Menschen irregulär nach Deutschland. Die wollen Sie alle ins Flugzeug nach Ruanda setzen?
Wenn wir das vier, sechs, acht Wochen lang konsequent durchziehen, dann werden die Zahlen dramatisch zurückgehen. Viele werden sich erst gar nicht mehr auf den Weg machen, wenn klar ist, dass dieser binnen 48 Stunden in einen sicheren Drittstaat außerhalb der EU führt.
Ein individuelles Recht auf Asyl und Prüfung innerhalb Deutschlands lehnen Sie ab?
Für jemanden, der italienischen Boden betritt, gibt es eigentlich schon heute keinen Anspruch auf Asylprüfung in Deutschland. Auch in der Genfer Flüchtlingskonvention steht nicht, dass Schutz vor Kriegsverfolgung in der EU gewährt werden muss. Wenn wir dafür sorgen, dass Verfolgte einen sicheren Schutzraum bekommen, dort gut versorgt werden und ohne Angst leben können, dann ist das Ziel der Flüchtlingskonvention erfüllt. Und das geht auch in Drittstaaten. Das derzeitige System führt in eine Überlastungssituation, in der wir niemandem mehr gerecht werden. Und deswegen braucht es einen konzeptionellen Neustart.
Weniger Flüchtlinge heißt weniger AfD?
Die Migrationskrise lösen heißt, Frust und Verunsicherung der Bürgerinnen und Bürger zu reduzieren. Das ist das Thema, bei dem die Allermeisten ihr Vertrauen in die Handlungsfähigkeit des Staates verloren haben, weil sie einfach sehen, was vor Ort passiert. In der Kita, in der Schule, am Wohnungsmarkt, in Bus und Bahn. Sie sehen überall die Folgen irregulärer Migrationen. Und wenn man es schafft, Probleme zu lösen, dann ja, dann, da bin ich sehr sicher, verlieren auch die Radikalen an Zuspruch.