Köln – Bevor der Oberstaatsanwalt Ulrich Bremer auf der Pressekonferenz am Montag weiterspricht, hält er kurz inne. „Das jüngste Opfer war erst einen Monat alt.“ Dann schweigt er kurz und sagt es noch einmal: „Einen Monat.“ Den Ermittlern von Polizei und Staatsanwaltschaft Köln ist die Bestürzung anzusehen. Wieder geht es um Kindesmissbrauch, der tausendfach gefilmt und weiterverbreitet wurde. Wie schon in Bergisch Gladbach oder Lügde.
Oberstaatsanwalt Joachim Roth hat sichtlich Probleme, darüber zu sprechen. Man müsse davon ausgehen, dass sich dieser Fall nahtlos in die Geschehnisse anderer Missbrauchskomplexe einreihe. Und trotzdem, bei dem jetzt bekannt gewordenen Fall aus Wermelskirchen gingen die Sachverhalte noch einmal deutlich über andere hinaus, sagt Roth. „Das, was ich gesehen habe, hat mich bis ins Mark erschüttert.“
Tatverdächtiger gab sich als Babysitter aus
Auf die Spur des Täters kamen die Ermittler im November 2021 durch einen Hinweis des Landeskriminalamtes Berlin. Die hatten den 44-Jährigen als Chatpartner eines Tatverdächtigen in einem anderen Fall von sexuellem Missbrauch ausgemacht. Die Kölner Ermittler leiten umgehend Maßnahmen ein. So wurde etwa das Telefon des Tatverdächtigen überwacht, „um eine möglichst erfolgreiche Durchsuchung seines Wohnobjekts vorzubereiten“, sagt Bremer.
Die findet am 3. Dezember 2021 statt. Ein Spezialeinsatzkommando (SEK) rückt an. Nicht etwa weil der Täter als gefährlich gelte, vielmehr wolle man ihn „am offenen Rechner“ erwischen, so Hauptkommissar Jürgen Haese. Dadurch könne verhindert werden, dass verschlüsselte Daten verloren gehen. Als das SEK dann die Wohnung des Mannes stürmt, befindet der sich gerade in einer Videokonferenz mit seinen Arbeitskollegen. „Die dachten, sie seien Zeuge eines Überfalls und riefen die 110.“ Die Polizei nimmt den per Haftbefehl gesuchten Mann fest.
Dann dauert es noch 17 Tage, bis die Ermittlerinnen und Ermittler alle Daten von insgesamt 232 Datenträgern zu sichern. Über 30 Terabyte, 3,5 Millionen Bilder und 1,5 Millionen Videos, die sexuellen Missbrauch und Vergewaltigung von Kindern und Säuglingen zeigen. „Wenn man sich vorstellt, dass ein Terabyte einen Papierstapel von 25 Kilometer Höhe abbildet, kann man sich vorstellen, mit welchen Ausmaßen unsere Ermittler da konfrontiert sind“, sagt Bremer.
Polizei macht 70 weitere Verdächtige aus
Einige der Fotos und Videos hat der Angestellte, der keine Vorstrafen hat, selbst gemacht. Insgesamt lassen sich bislang 18 Taten an zwölf Kindern nachweisen. Seine Opfer traf der Mann, indem er sich als Babysitter ausgab. Über Internetportale wie Ebay Kleinanzeigen habe er seine Dienste im Kölner angeboten. Dabei habe er manche Kinder nur zwei oder drei Mal betreut. Andere traf er jahrelang. Von den zwölf Kindern, die er missbraucht haben soll, waren zehn Jungen, zwei Mädchen.
Doch die riesige Datenmenge, die bei dem Verdächtigen gefunden wurden, stammt nicht allein von seinen Missbrauchshandlungen. Insgesamt hat die Polizei bereits mehr als 70 weitere Verdächtige ausgemacht, mit denen er kinderpornografisches Material getauscht haben soll. Bislang konnte die Polizei Tatverdächtige in 14 Bundesländern ausmachen. Allein in Nordrhein-Westfalen sind es 26. Die meisten Verdächtigen sind in einem Alter zwischen 26 und 45 Jahren.
Derzeit werde geprüft, ob der 44-Jährige aus Wermelskirchen in Sicherungsverwahrung genommen werden könne, so die Ermittler. Ein psychiatrisches Gutachten sei in Auftrag gegeben worden. Bei den übrigen Verdächtigen handele es sich um Väter, Nachbarn, Bekannte, Brüder oder Großväter der Opfer.
Vergleich mit Missbrauchskomplex Bergisch Gladbach
Vieles an dieser Geschichte erinnert an den Missbrauchskomplex Bergisch Gladbach, den Polizei und Staatsanwaltschaft Köln unter dem Titel „BAO Berg“ führen (siehe Kasten.) „BAO“ ist die Kurzform für „Besondere Aufbauorganisation“ und beschreibt den Rahmen, der bei solchen komplexen Fällen für die Ermittlungsdauer zusammenkommt. Weil der Tatverdächtige in Wermelskirchen Listen über seine unzähligen Daten und Videos geführt hat, trägt der Fall nun den Titel „BAO Liste“.
Verbindungen zu anderen Fällen von Kindesmissbrauch
Der Missbrauchskomplex Bergisch Gladbach beschreibt ein großes Geflecht von Verdächtigen, die sich im Netz über Kindesmissbrauch austauschten. Die Besondere Aufbauorganisation „Berg“ hatte seit Oktober 2019 in dem weit verzweigten Missbrauchskomplex ermittelt. Im Haus eines Mannes aus Bergisch Gladbach waren Unmengen kinderpornografischer Daten gefunden worden.
Im Missbrauchskomplex Münster hat die Polizei ebenfalls einen schweren Fall von Kindesmissbrauch aufgedeckt. Der Mann aus Wermelskirchen soll einem der Täter aus Münster via Videochat beim Missbrauch zugesehen und Anweisungen gegeben, berichtete NRW-Innenminister Herbert Reul. Warum er nicht schon bei den Ermittlungen im Komplex Münster identifiziert worden sei, wisse er derzeit aber nicht. (dpa)
Doch trotz der Ähnlichkeiten unterscheiden sich die beiden Fälle, sagt Haese. So habe man es in Bergisch Gladbach etwa mit einer ganzen Tätergruppe zu tun gehabt, die untereinander vernetzt war. Der Tatverdächtige aus Wermelskirchen hingegen habe individuelle Kontakte gepflegt. „Dahinter steckt kein Pädophilenring, wie man vielleicht vermuten könnte.“
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Und noch mehr ist anders. „In Bergisch Gladbach haben wir auch ganz normale Urlaubs- und Familienfotos gefunden.“ Die Fotos und Videos aus Wermelskirchen hingegen ließen „keinerlei Spielraum für anderes“, so Haese. Die Gewaltfantasien, die dabei verwirklicht worden seien, hätten auch erfahrene Ermittler in dem Bereich entsetzt. Auch dadurch unterscheide sich der Fall vom Missbrauchskomplex Bergisch Gladbach. Dort haben die Täter ihre Kinder durch Überredungen und Belohnungen, zu sexuellen Handlungen überzeugen wollen. „Zusätzliche Gewalt wurde dort überwiegend abgelehnt.“ Nicht so beim Datenmaterial, das in Wermelskirchen gefunden wurde. „Man sieht dort brutalste Vergewaltigung von Babys und Kleinkindern“, sagt Haese. Es gebe Anhaltspunkte dafür, dass die Kinder in einigen Fällen dafür betäubt worden seien.
Aus dem bisher gesichteten Material, das den Metadaten nach bis 1993 zurückreicht, sind bislang 33 Missbrauchsopfer identifiziert worden. „Einige der Opfer und ihre Eltern haben erst durch die Ermittlungen von dem Missbrauch erfahren. Das sorgt zum Teil für Verwirrung.“ Die Betroffenen werden psychologisch betreut. Ebenso wie die Ermittler, die das Datenmaterial nun sichten müssen. „Wir haben interne und externe Angebote für unsere Mitarbeiter, damit sie verarbeiten können, was sie tagtäglich sehen und vor allem hören müssen“, sagt Polizeipräsident Schnabel.
Bislang seien etwa zehn Prozent der gefundenen Daten ausgewertet worden. Wie viele Tatverdächtige und Opfer im weiteren Verlauf der Ermittlungen noch identifiziert werden, sei noch nicht absehbar. „Das war vermutlich nicht die letzte Pressekonferenz, die wir zur BAO Liste geben werden.“