„Null Toleranz hat sich erledigt“Grüne Jugend NRW fordert klare Positionen
Lesezeit 4 Minuten
Die NRW-Grünen haben sich nach 100 Tagen an der Seite der CDU erkennbar eingerichtet.
Keine Debatten in den eigenen Reihen, kaum ein kritisches Wort, kein noch so kleiner Koalitionskonflikt.
Nur der Parteinachwuchs sieht Schwarz-Grün weiter skeptisch.
Nicola Dichant, Vorsitzende der Grünen Jugend, sprach mit Tobias Blasius über eine fehlende Handschrift und Hilfspakete.
Die Grüne Jugend gehörte zu den ganz wenigen Stimmen, die eine Koalitionsbildung mit der CDU in NRW kritisch kommentiert haben. Konnten Sie in den ersten 100 Tagen Schwarz-Grün in NRW überzeugt werden?
Wir fühlen uns leider in unserer Skepsis vielmehr bestätigt. Natürlich sind 100 Tage inklusive der parlamentarischen Sommerpause keine lange Zeit, um in Gang zu kommen. Aus unserer Sicht hätte die Koalition aber auf vielen Ebenen schon deutlich mehr liefern müssen, um die Menschen in NRW spürbar zu entlasten.
Die Folgen des Ukraine-Krieges überlagern alles. Gestehen Sie der Landesregierung keinen Krisenrabatt zu?
Politik ist vor allem in Krisenzeiten gefordert. Selbst wenn eine Landesregierung neu im Amt ist, muss sie schnell in den Krisenmodus schalten. Wir verstehen nicht, warum Nordrhein-Westfalen nicht wie andere Bundesländer längst ein eigenes Hilfspaket geschnürt hat, um Bürgerinnen und Bürger, Kommunen, Vereine, Hochschulen und Unternehmen zu entlasten. Jeder weiß: Ein Aussetzen der Schuldenbremse auf Bundes- und Landesebene ist unumgänglich. Stattdessen sorgt NRW-Finanzminister Marcus Optendrenk mit der Aussage für Verunsicherung, er sehe kaum noch Spielräume für schwarz-grüne Regierungsprojekte.
Die neuen Landeschefs der NRW-Grünen haben doch ebenfalls die Aussetzung der Schuldenbremse gefordert. Sind sie zu leise?
Wir begrüßen sehr, dass die Grünen-NRW ebenfalls hinter der Aussetzung der Schuldenbremse auf Bundesebene und dann auf Landesebene stehen. Ministerpräsident Hendrik Wüst hat sich die Forderung aber bislang nicht zu eigen gemacht. Da müssen wir mehr Druck aufbauen. Die grüne Handschrift sollte deutlicher erkennbar sein. Wenn dafür der eine oder andere Konflikt mit dem Koalitionspartner nötig ist, dann muss man ihn eben austragen.
Streitpunkt Tagebau: Jugend fordert Partei zu klarer Position auf
Zum 1. Oktober hat die Rodungssaison im Rheinischen Braunkohlerevier begonnen. Der Energiekonzern RWE besitzt nun das Recht, das für die Klimabewegung wichtige Symboldorf Lützerath in Erkelenz abzubaggern. Wie gehen Sie damit um?
Lützerath muss bleiben. Das Abbaggern des Dorfes ist für uns ein No-Go. Ich würde mir wünschen, dass die Grünen das auch so klar sagen würden. RWE kann und muss auf die Kohle unter Lützerath verzichten. Wir hoffen, dass die grüne Wirtschaftsministerin Mona Neubaur in den Verhandlungen klar für Lützerath einsteht. Niemand wünscht sich eine Eskalation zwischen Polizei und Klimabewegung wie 2018 am Hambacher Wald. Aber klar ist: Die Grüne Jugend steht solidarisch an der Seite der Klimaschützerinnen und Klimaschützer.
Das heißt: Es könnte dazu kommen, dass eine schwarz-grüne Landesregierung die Räumung von Lützerath gegen den Widerstand der Grünen Jugend durchsetzen muss?
Es kann niemand ein Interesse daran haben, dass wir in so eine Situation rutschen, aber es hängt am Ende an RWE.
Klimaaktivisten haben zuletzt Parteigeschäftsstellen der Grünen besetzt und Protestaktionen vor dem grünen Wirtschaftsministerium gestartet. Ist das für Sie in Ordnung?
Man kann über einzelne Aktionen immer streiten. Aber die Grünen sind aus Bürgerbewegungen entstanden. Ich halte zivilen Ungehorsam für ein legitimes Mittel der politischen Auseinandersetzung. Alle Parteien brauchen den Druck von der Straße.
Mehr Kohlestrom, Laufzeitverlängerung für Atommeiler – es ist eine Zeit der Zumutungen für Grüne. Wackeln Gewissheiten Ihrer Partei?
Nein, die Abhängigkeit von fossilen Energien hat Deutschland doch erst in die schwierige Lage gebracht, in der wir nun stecken. Die Lösung unserer Probleme kann nicht darin bestehen, dass wir nun wieder dauerhaft auf Kohle, Gas und Atom setzen und die Energiewende verschleppen. Der Kohleausstieg 2030 ist für uns nicht verhandelbar.
Der für einen Jugendlichen tödliche Polizeieinsatz in Dortmund Anfang August wühlt viele auf. Welche Lehren ziehen Sie aus dem Vorfall?
Wenn ein 16-jähriger Jugendlicher, der offenbar sich selbst gefährdete, durch mehrere Kugeln aus einer Polizei-Maschinenpistole getötet wird, muss das über die strafrechtlichen Ermittlungen hinaus auch politische Konsequenzen haben. Wir brauchen eine Kehrtwende in der gesamten Haltung der Polizeiarbeit. Der sogenannte Null-Toleranz-Kurs von Innenminister Herbert Reul hat sich mit Dortmund endgültig erledigt. Wir müssen vielmehr darüber nachdenken, wie wir bürgernahe Polizeiarbeit verbessern, die Sorgen der migrantischen Community ernst nehmen und in kritischen Einsatzlagen besser mit multiprofessionellen Teams arbeiten. Die Maschinenpistole kann nicht die Lösung sein.