Deutsche Leitkultur als Voraussetzung für die Integration? Schon vor der Vorstandsklausur, die am Freitag und Samstag über das neue CDU-Grundsatzprogramm berät, gab es heftige Debatten. Fraktionsvize Jens Spahn und der Kölner Sozialethiker Elmar Nass als Berater haben am Entwurf mitgearbeitet. Was sagen sie jetzt?
Interview zum CDU-GrundsatzprogrammGehören Weihnachtsbäume wirklich zur Leitkultur?
Herr Spahn, Andreas Rödder, der Ex-Vorsitzende der CDU-Grundwertekommission, hatte Bedenken gegen das C im Parteinamen. Nun, im Grundsatzprogramm, schreiben Sie ein ganzes Kapitel über das christliche Menschenbild. Schließt das nicht, wie Rödder fürchtete, Teile der Gesellschaft aus?
Spahn: Das christliche Menschenbild schließt niemanden aus. Es geht dabei um die unantastbare Würde und den gleichen Wert jedes Menschen. Und um die Einsicht, dass Politik die vorletzten Antworten gibt, nicht die letzten. Wir besitzen nicht die absolute Wahrheit. Insofern ist unser Programm eine Einladung an alle.
Herr Nass, schon in der Ära Merkel hörte man vor allem aus der katholischen Kirche: Die CDU muss sich Mehrheiten suchen, aber sie soll das nicht als christlich ausgeben. Sie haben die CDU als Theologe beraten – was sagen Sie dazu?
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Nass: Wie Jens Spahn sagt: Politik gibt die vorletzten Antworten. CDU und CSU sind keine Kirchenparteien. Aber das C gibt Leuten wie mir einen Zugang, christliche Argumente in ihre Programmatik hineinzubringen.
Aber nach den Konzepten der CDU, vor allem der vor Merkel, hätte Herr Spahn nie heiraten dürfen. Da ist es doch gut, dass die Politik sich über Wünsche katholischer Bischöfe hinweggesetzt hat, oder?
Nass: Auch in der Kirche hat sich ja seither vieles geändert. Auf der anderen Seite: Nicht alles, was Frau Merkel gesagt und getan hat, war gut - gerade im Blick auf das Christliche.
Spahn: Wir sind die Christlich-Demokratische Union, nicht die Katholische Union. Wir treffen Entscheidungen in der realen Welt und müssen Kompromisse eingehen. Zehn oder zwanzig Euro mehr oder weniger bei Hartz IV ist keine Frage des christlichen Menschenbildes. Vielmehr geht es um die Frage: Mit welcher Einstellung zu Mensch und Gesellschaft mache ich Politik?
2015 feierte Kardinal Woelki in Köln die Fronleichnamsmesse an einem Flüchtlingsboot und sagte: Christus ist in diesem Boot. Jetzt wollen Sie Asylverfahren außerhalb der EU. Also: Christus, komm bitte nicht zu oft?
Spahn: Zur Verantwortungsethik gehört, sich nicht zu übernehmen. Damit der heilige Martin sein Gewand teilen kann, muss er eins haben. Das ist eine Grundfrage der Sozialpolitik: Reden wir vom Prinzip der Nächstenliebe, also der Pflicht der Stärkeren zu helfen, oder von einem Anspruch auf Hilfe? Dahinter stehen unterschiedliche Denkschulen. Wenn Hilfe in die Überlastung führt, ist es ethisch völlig vertretbar, stopp zu sagen.
Nass: Kardinal Woelki hat zu Recht betont, dass wir helfen müssen. Aber es geht um die Frage der Realisierung. Anderes Beispiel mit gleicher Logik: Christus hat nirgendwo dazu aufgerufen, Waffen in die Hand zu nehmen. Trotzdem finde ich, dass Länder sich notfalls mit Gewalt verteidigen dürfen. In der Realität geht es nicht anders. Der Realität müssen wir uns auch in der Flüchtlingspolitik stellen: Wenn wir uns hier zu sehr öffnen, kann es dazu kommen, dass wir Populisten am rechten und linken Rand noch mehr Stoff geben.
Aber Ihr Programmentwurf setzt viel voraus, internationale Abkommen etwa. Was würden Sie denn machen, wenn Sie in zwei Jahren regieren müssten?
Spahn: Da gibt es eine Reihe von Maßnahmen. Grenzkontrollen etwa, von denen wir ja gerade sehen, dass sie einen Unterschied machen. Die Kürzung von Sozialleistungen für Ausreisepflichtige. Das ist übrigens eine grundsätzliche ethische Frage: Kann jeder, der einfach eine Gemeinschaft sozusagen räumlich betritt, den gleichen Anspruch haben wie alle anderen, die schon als Beitragszahler Teil der Solidargemeinschaft sind? Und wichtig ist, dass der Außen- und der Innenminister ab Tag eins einer neuen unionsgeführten Regierung unterwegs sind, bis Verträge mit sicheren Drittstaaten geschlossen sind und wir in der EU eine Allianz der Willigen geformt haben.
Sie formulieren, dass Muslime dann zu Deutschland gehören, wenn sie sich zu bestimmten Werten bekennen. Warum werden nur die adressiert?
Spahn: Weil es hier etwas Spezifisches zu adressieren gibt. Der Islam hat keine Aufklärung durchlaufen. Wie hält er es mit der Gleichberechtigung von Mann und Frau? Wie mit Andersgläubigen? Mit westlichen Werten? Das dürfen und müssen wir in einem christlich-jüdisch und abendländisch geprägten Land fragen, gerade angesichts der Erfahrungen der letzten Jahre. Auch mit Blick auf die Bilder, die wir nach dem 7. Oktober auf unseren Straßen gesehen haben. Da gibt es schon so etwas wie eine Bringschuld, die Pflicht zum Zeigen, dass man zu unserer offenen Gesellschaft gehören will. Ich hätte mir auch gewünscht, dass der deutsche Bundespräsident die Moschee in Köln eröffnet hätte und nicht Erdogan. Dass wir also deutsche Moscheegemeinden haben.
Nass: Die Formulierung ist eine gewisse Herausforderung, aber sie könnte auch eine Einladung an die islamische Community sein: zu schauen, wo sind die Kräfte, von denen wir uns vielleicht noch stärker abgrenzen müssen? Und wo können wir andocken? Etwa an einen humanistischen Islam, den es ja auch gibt.
Würde es nicht reichen, zu sagen: Alle haben sich ans Grundgesetz zu halten?
Spahn: Sie würden Ihre Kinder nicht nur mit dem Grundgesetz unterm Arm erziehen. Stichwort Antisemitismus: Die besondere Verantwortung Deutschlands vor der Geschichte steht nicht im Grundgesetz. Ebenso wenig der Umgang im Alltag, etwa dass wir uns hier die Hand geben, dass wir nicht unsere Gesichter verdecken. Das gehört zum Zusammenleben in unserem Land, ja: zur Leitkultur.
Nass: Nicht jede Form von Anderssein ist Bereicherung. Zur Sozialkultur gehören nicht nur rechtliche Regelungen, sondern auch moralische Prägungen. Erst sie machen das Miteinander wertvoll, liebens- und lebenswert. Allerdings hätte ich mir gewünscht, dass der Programmentwurf mehr Substanzielles zum christlichen Menschenbild sagt. Nur zu schreiben, dass wir von Gott geschaffen sind, reicht nicht, das gilt ja auch für Tiere.
Um die Jahreswende gab es aus der CDU alle möglichen Vorschläge, was zur Leitkultur gehören soll: Tannenbäume, richtiges Duschen, Silvesterfeuerwerk. Ganz ehrlich, auch meine Familie ergreift bei Böllern die Flucht. Sind wir nicht deutsch genug?
Spahn: Kultur, das ist die Summe aller Werte, Überzeugungen, Denkweisen, Sitten und Gebräuche, die den Angehörigen eines Volkes durch Erziehung und Sozialisation vermittelt und von Generation zu Generation weitergeben werden. Und ja, auf der Basis lässt sich eine deutsche Leitkultur definieren. Ums Böllern geht’s da tatsächlich weniger.
Nass: Den Begriff der Leitkultur sollte man nicht überdehnen. Er bezieht sich auf geteilte Werte und Moralvorstellungen. Da geht es dann etwa darum, wie wir unsere freiheitliche Demokratie verankert sehen: etwa in unserer Verantwortung vor Gott oder vor der Vernunft. Nicht aber in bloßen Nutzenerwägungen, mit denen sich die Menschenwürde abstufen ließe. Oder mit dem Glauben an autoritäre Machthaber oder autoritäre Parteien. Bei uns gehört zur Leitkultur nicht eine Bekehrung, aber das Bewusstsein, woher unsere sozialen Werte und unsere Moral letztlich kommen: Und das sind Christentum und Aufklärung.
Aber im Ernst: Eine Einbürgerung ist ein Rechtsakt, der auf überprüfbaren Normen basiert, und die Debatte zeigt doch, wie schwer die aus der Idee einer Leitkultur abzuleiten sind. Sollten Sie sich da nicht besser mit den anderen demokratischen Parteien darum bemühen, zum Beispiel die besondere Verantwortung Deutschlands angesichts des Holocaust ins Grundgesetz zu bringen?
Spahn: Die Einbürgerung sollte der Schlussstein gelungener Integration sein. Jemand muss zeigen, dass er sich einbringen, mit uns gemeinsam die Zukunft unserer Nation gestalten will. Dazu gehört das Erlernen der Sprache, zu arbeiten, um für sich selbst und die Familie zu sorgen und ja, dazu gehört es auch, sich unserer Art, als Gesellschaft zu leben und uns denken, anzupassen, sich einfügen zu wollen.
Nass: Zweifellos hat Deutschland eine besondere Verantwortung. Dazu gehört aber auch eine Achtsamkeit gegenüber realitätsfernen Träumen vom Paradies auf Erden. Genau solche Ideologien waren in der Geschichte gefährliche Verführungen. Wer auf idealisierte Menschen baut, die völlig selbstlos alles miteinander teilen und sich für andere bis zum letzten aufopfern, handelt unverantwortlich. Denn die Menschen sind nicht so. Sie umzuerziehen, wäre autoritär. Die Verantwortung vor unserer Geschichte heißt also gerade nicht, dass wir unsere Leitkultur aufgeben und die Einbürgerung verschenken. Denn das treibt viele Menschen an die Ränder, die unsere Freiheit und ein friedliches Miteinander gefährden.
Sie zitieren Ludwig Erhards Buchtitel vom Wohlstand für alle und machen daraus ein ganzes Kapitel. Aber was tun sie gegen die ungleiche Verteilung von Wohlstand?
Spahn: Zugang zu Wohlstand für alle heißt, dass jeder mit seiner Leistung, seiner Arbeit, seinem Sich-Einbringen einen Unterschied machen kann. Das ist konstitutiv für unsere Gesellschaft, das schafft Zusammenhalt. Wenn die Bürger das Vertrauen in diese Möglichkeit verlieren, dann ist dieser Zusammenhalt gefährdet. Und das geschieht derzeit laut Umfragen. Es geht darum, Arbeit wertzuschätzen. Sie ist sinnstiftend. Wer arbeiten kann, sollte arbeiten. Das sehen andere Parteien anders. Wer arbeitet, soll die Chance haben, Eigentum aufzubauen. Auch Wohneigentum und Aktieneigentum. Auch bei niedrigem Einkommen.
Nass: Wohlstand für alle heißt ja nicht, dass alle das Gleiche haben sollen. Erhard meinte nicht Alimentierung, er wollte Zurückhaltung bei Sozialtransfers. Wohlstand für alle heißt im Grunde: Freiheit für alle, aus eigenen Kräften für sich selbst sorgen zu können, um unabhängig zu sein.
Voraussetzung dazu wären aber doch sicher faire Bildungschancen für alle. Viele Leute sagen, die Trennung in Schulsparten sei der Kern des Übels, das Gymnasium hier, Schulen für den Rest dort.
Nass: Ich bin kein Freund einer Egalisierung des Bildungssystems, und ich halte auch nichts von einem Recht auf Abitur für alle. Das führt nämlich dazu, dass die Ansprüche immer weiter abgesenkt werden. Wir müssen anders ansetzen. Handwerkliche Berufe sind nicht weniger wert als akademische Berufe. Gut christlich gesprochen. Der eine hat halt das Talent mitbekommen, mit abstrakten Theorien oder mathematischen Formeln umzugehen, und der andere hat das Talent mitbekommen zu einem gekonnten Handwerk. Und deswegen ist auch die Hauptschule, ist der Hauptschulabschluss nicht weniger wert als ein Realschul- oder Gymnasialabschluss, sondern es ist etwas anderes. So ist eigentlich mein Ideal sozusagen im Sinne der Diversität.
Spahn: Es gibt keine Einheitskinder, also sollte es auch keine Einheitsschulen geben. Auch das hat mit einem christlichen Menschenbild zu tun: die Menschen nehmen, wie sie sind und ihnen danach die Möglichkeit zur Persönlichkeitsentwicklung, zur Bildung, zur Erziehung zu geben.
Nass: Viele wissen auch gar nicht, woher der Bildungsbegriff eigentlich kommt. Er hat einen biblischen Ursprung, er kommt von der Gottesebenbildlichkeit des Menschen, dass Gott sich sozusagen in den Menschen hinein bildet. Deshalb geht es nicht allein darum, mathematische Formeln oder irgendwelche Geschichtsdaten zu kennen, sondern sie auch aufgrund eines Wertefundaments einordnen zu können.