Wohin will der Papst? Raimund Neuß sprach mit dem Vatikanexperten Marco Politi über Reformwillen, Widerstände konservativer Kardinäle und die Lage in Deutschland.
Herr Politi, Sie sehen den Papst „im Auge des Sturms“. Wohin steuert Franziskus? Ein Beispiel: Da nennt er Homosexuelle Kinder Gottes, dann aber dürfen sie doch nicht gesegnet werden. Was will er eigentlich?
Franziskus ist wie ein Schiffskapitän in einem Ozean voller Eisberge. Er steuert das Schiff manchmal in einem Zickzackkurs. Aber unter Johannes Paul II. und Benedikt XVI. waren homosexuelle Beziehungen schlicht verboten als etwas, was gegen die Sittenlehre der Kirche war. Franziskus hat ein neues Kapitel aufgeschlagen, er hat homosexuelle Beziehungen anerkannt. In Amerika hat er einen ehemaligen Studenten mit seinem Partner empfangen, im Vatikan hat er einen spanischen Transsexuellen mit seiner Verlobten empfangen. Seine Position ist ganz klar, dass homosexuelle Beziehungen kein Problem sind.
Der Autor und sein Buch
Marco Politi (74) ist einer der bekanntesten Vatikanexperten Italiens. 20 Jahre lang schrieb er für „La Repubblica“, später für „Il Fatto Quotidiano“. Politi ist Autor zahlreicher Bücher über die Päpste Johannes Paul II., Benedikt XVI. und Franziskus.
Soeben erschienen ist sein Werk über das Agieren von Franziskus in der Corona-Krise und die Lage der Kirche in Deutschland: „Im Auge des Sturms. Franziskus, die Pest und die Heilung der Welt“. Herder Verlag, 192 Seiten, 18 Euro.
Also: Franziskus fährt Zickzack, aber er weiß, wo er hinwill?
Ja! Er hat sogar gesagt, Homosexuelle hätten das Recht, in einer Familie zu leben. Aber vergessen Sie nicht, in der katholischen Kirche gibt es einen Untergrund-Bürgerkrieg. Die Opposition ist sehr stark, Kardinal Matteo Zuppi aus Bologna spricht von Hass, der deutsche Kurienkardinal Walter Kasper stellt offen fest, dass es Leute gibt, denen dieser Papst nicht gefällt. Diese Leute hoffen, dass er schnell weggeht. Jesuitengeneral Arturo Sosa spricht von einem politischen Kampf. Ein Papst ist nur allmächtig, wenn er konservativ ist. Ein reformfreudiger Papst muss mit Opposition rechnen. Auf den Familiensynoden 2014 und 2015 hatte das konservative Lager die Oberhand.
Das nächste Thema, wo es nicht weitergeht, ist die Diakonenweihe für Frauen.
Franziskus ist der erste Papst, der eine Kommission eingesetzt hat, um dieses Problem zu studieren – und die Kommission spiegelt genau die Situation der katholischen Kirche wider: Entzweiung. Eine Hälfte war progressiv, die andere hat gestoppt. Der Papst hat nicht die politische Kraft, sich bei einer Neuerung durchzusetzen. Denken Sie an die Amazonien-Synode: Zwei Drittel der beteiligten Bischöfe waren dafür, verheiratete Priester zuzulassen. Das traf auf erbitterten Widerstand der Konservativen, Höhepunkt war ein Buch des Kardinals Robert Sarah, an dem sich auch der ehemalige Papst Benedikt XVI. beteiligte – mit einer Verteidigung des Pflichtzölibats. Auch hier konnte der Papst sich nicht durchsetzen.
Wir erleben derartige Reformdiskussionen auch beim Synodalen Weg in Deutschland. Kritiker wie der Kölner Kardinal Rainer Maria Woelki warnen vor einer Kirchenspaltung. Gibt es diese Gefahr?
Es gibt schon heute eine Spaltung im Untergrund. Konservative Kräfte wollen keinerlei Neuerung, ob es um den Diakonat der Frau geht, um den Zölibat, um den Umgang mit Homosexuellen, um die Kommunion für Wiederverheiratete. Sie sind absolut dagegen. Vergessen Sie nicht, dass die meisten Bischöfe auf der Welt noch zu Zeiten von Johannes Paul II. und Benedikt XVI. berufen worden sind. Ich glaube aber nicht, dass daraus eine offene Spaltung wird.
Auch bei Personalangelegenheiten fragt man sich, was der Papst eigentlich will. Seit Monaten warten etwa der Erzbischof von Hamburg und der Kölner Weihbischof Dominikus Schwaderlapp auf Entscheidungen über ihre Rücktrittsangebote, das ganze Erzbistum Köln auf eine Reaktion auf den Visitationsbericht.
Das sind in der Tat große Probleme, die der Papst auf die lange Bank schiebt – so wie er es auch mit Kardinal Philippe Barbarin in Lyon gemacht hat. Aber am Ende musste Barbarin gehen. Auch in Chile hat der Papst viele Bischöfe zum Rücktritt gezwungen, weil sie in Missbrauchsaffären ihre Pflicht verletzt haben. Ich will nicht spekulieren, wie der Papst in den Kölner Fällen entscheiden wird, aber es gibt Präzedenzfälle.
Aber er hat auch einen Bischof, den Münchner Kardinal Marx, nicht gehen lassen, obwohl der schwere Fehler gemacht hatte.
Kardinal Marx spielt in der Weltkirche eine zentrale Rolle, er vertritt die Reformlinie des Papstes. Man darf nicht vergessen, dass Deutschland weltweit das einzige Land ist, in dem eine Bischofskonferenz – unter dem Vorsitz von Marx – eine unabhängige Studie zu Missbrauchsfällen in Auftrag gegeben hat. In den meisten Ländern, auch in Italien, gibt es kein System mit Ansprechpartnern und regelmäßigen Berichten wie in Deutschland. Das darf man nicht vergessen.
In früheren Jahrhunderten waren die Kirchen in Krisenzeiten voll, in der Corona-Pandemie waren sie leer. Das ist ja auch eine Frage, mit der Sie sich in Ihrem neuen Buch beschäftigen: Hat die katholische Kirche die Menschen im Stich gelassen?
In der Corona-Pandemie hat die katholische Kirche eben nicht wie manche extremistischen religiösen Bewegungen eine Ausnahme für sich verlangt. Franziskus hat entschieden, den Wissenschaftlern und Gesundheitspolitikern zu folgen. Vergessen wir nicht, es gab ein Manifest konservativer Kirchenleute um Kardinal Ludwig Gerhard Müller und den Erzbischof Carlo Maria Viganò, der ja schon einmal den Rücktritt des Papstes gefordert hat. Diese Leuten hielten Corona für eine Manipulation, um der Kirche die Freiheit zu nehmen. Der Papst hat dagegen einen verantwortungsvollen Kurs gewählt. Und zugleich hat die Kirche den Menschen in der Kirche konkret beigestanden. Zentral war Franziskus“ Aussage am 27. März 2020: Diese Pandemie ist keine Strafe Gottes, sondern wir müssen selbst beurteilen, was wir tun wollen, welche Gesellschaft wir aufbauen wollen, sagte er bei dem historischen Gebetsmoment im leeren Petersdom. Er hat als weltweit einzige politische Autorität zu einer nachhaltigen Entwicklung aufgerufen und dazu, eine Gesellschaft zu bilden, in der niemand am Rande steht.
Im Dezember wird Franziskus 85, und immer wieder gibt es Spekulationen um einen Papst-Rücktritt. Wie realistisch sind die?
Der Papst hatte am Anfang selbst die Idee, dass er nach vier oder fünf Jahren zurücktritt. Aber alle Reformanhänger haben ihn gebeten, das nicht zu tun. Heute ist der Papst entschlossen, bis zum Ende auf seinem Posten zu bleiben. Er würde nur zurücktreten, wenn er so schwer krank wäre, dass er sein Amt nicht mehr ausführen kann. Und niemand im Vatikan wünscht sich drei Päpste auf einmal, einen regierenden und zwei zurückgetretene.
Zurzeit haben wir ja schon zwei Päpste – wie kommt Franziskus mit dieser Situation zurecht?
Es hatte sehr gut angefangen, Franziskus hat versucht, diese neue Figur des pensionierten Papstes zu integrieren, er hat Benedikt jede Freiheit gelassen und ihn immer wieder getroffen. Aber nach der Amazonien-Synode ist es zum Bruch gekommen, auch wenn Franziskus diplomatisch und höflich bleibt. Das Buch mit Kardinal Sarah, von dem ich vorhin sprach, war etwas Unerhörtes. Benedikt mischte sich in eine Frage ein, in der Franziskus entscheiden solle. Er griff unmittelbar ins Regierungshandeln ein.
Wie blickt Franziskus auf die Zukunft der Kirche, auf seine Nachfolge?
Die Leute, die über Franziskus’ Rücktritt spekulieren, übersehen, was für große Zukunftsprojekte er vorantreibt: Er hat eine Bischofssynode, die nicht wie üblich einen Monat dauern soll, sondern zwei Jahre. Ihr Thema ist, wie die Kirche als Gemeinschaft leben soll, an der alle teilnehmen, und nicht als monarchische Organisation. Das ist eine Art kleines Konzil. Gleichzeitig hat der Papst Sauberkeit und Transparenz in die vatikanischen Finanzen gebracht, die Verantwortlichen für den letzten großen Investitionsskandal stehen vor Gericht. Es wird kein Dreck mehr unter den Teppich gekehrt. Er hat die ganze Besessenheit der katholischen Hierarchie von Themen wie Scheidung und Homosexualität vom Tisch gewischt. Er ist der erste Papst, der Frauen in vatikanische Führungspositionen gebracht hat, im Staatssekretariat, bei der Bischofssynode, im Wirtschaftsrat, als Staatsanwältin, als Rektorin der päpstlichen Universität. Früher sah man im Vatikan nur Soutanen, heute sind es jede Menge Röcke. Er hat mit seiner „grünen“ Enzyklika gezeigt, dass er der modernen Gesellschaft etwas zu sagen hat. Muslime oder Buddhisten sind für ihn keine Konkurrenten, sondern Brüder. Das ist eine sehr wichtige Botschaft in der heutigen Zeit, wo die Gesellschaften so zerrissen sind. Franziskus hat gezeigt, dass man Christ nicht einfach dadurch ist, dass man zur Sonntagsmesse geht oder identitäre Lippenbekenntnisse ablegt. Christ ist man, wenn man Nächstenliebe konkret auf sozialen Ebene praktiziert.