London – Der britische Premier Boris Johnson steht nach herben Verlusten seiner Partei bei den regionalen Wahlen in England, Schottland und Wales einer ungewissen Zukunft gegenüber. Insgesamt verloren die Tories fast 500 Sitze bei den Kommunalwahlen, die Liberaldemokraten und die Labour-Partei gewannen deutlich hinzu. Letztere konnte Johnsons Partei die symbolisch wichtigen Londoner Bezirke Wandsworth und Westminster abringen, die jahrzehntelang konservativ wählten.
Es könnte zum Misstrauensvotum kommen
Johnson räumte eine „harte Nacht in einigen Teilen des Landes“ ein, wies aber auch auf Erfolge in anderen Regionen hin. Auf eine nationale Parlamentswahl hochgerechnet hätten die Tories mit ihren Ergebnissen ihre absolute Mehrheit im Londoner Unterhaus verloren, wie der Sender Sky News berechnete. Das wird unter anderem auf den „Partygate“-Skandal um Lockdown-Partys in der Downing Street zurückgeführt, wegen denen Johnson seit Monaten unter Druck steht.
Ob die Verluste ihm wirklich gefährlich werden, hängt von seinen Parteikollegen ab. Entziehen ihm 54 Abgeordnete das Vertrauen, kommt es zum Misstrauensvotum. Der Tory-Politiker Aaron Bell forderte am Wochenende bereits eine Debatte über Johnsons Zukunft. Wenn die Abgeordneten zurück im Regierungsviertel in Westminster seien, stehe diese Diskussion an, sagte Bell der BBC. Man dürfe nicht zulassen, dass die Situation die Partei über Monate hinweg weiter belaste.
Untersuchungsbericht zu illegaler Feier steht noch aus
Belasten könnte Johnson auch, wenn er für weitere der Lockdown-Partys Geldstrafen zahlen muss. Eine Strafe hat er bereits gezahlt. Dem „Mirror“ zufolge hat die Polizei damit begonnen, Strafgeldbescheide im Zusammenhang mit einer illegalen Weihnachtsfeier in der Downing Street auszustellen.
Das könnte Sie auch interessieren:
Außerdem steht noch immer der vollständige Untersuchungsbericht der Spitzenbeamtin Sue Gray aus, die der Downing Street schon vor einigen Monaten Führungsversagen und schwere Verfehlungen bei der Einhaltung von Regeln attestierte.
„Beergate“-Skanda pringt Oppositonschef in schwierige Lage
Allerdings muss sich Oppositionschef Keir Starmer, dessen Labour-Partei neben den Erfolgen in England auch in Wales und Schottland stark abschnitt, unangenehme Fragen zu einer geselligen Runde bei Curry und Bier während des Corona-Lockdowns stellen lassen. Nachdem insbesondere die „Daily Mail“ tagelang über den sogenanten „Beergate“-Skandal berichtete, hat die Polizei im nordenglischen Durham Ermittlungen zu dem Abend aufgenommen.
Das bringt Starmer in eine heike Lage: Als Premier Boris Johnson erstmals wegen „Partygate“ in den Fokus von Polizeiermittlungen geriet, forderte der Labour-Chef ihn schon zu diesem Zeitpunkt auf, seinen Posten zu räumen. Starmer betont nun, definitiv keine Regeln gebrochen zu haben. „Er ist „Mr. Rules““, verteidigte ihn seine Kollegin Lisa Nandy am Sonntag.
Boris Johnson hingegen muss sich nicht nur um vergangene Partys sorgen. Der historische Sieg der pro-irischen Partei Sinn Fein bei der Parlamentswahl in Nordirland bedeutet für den Premier einen schwierigen Spagat zwischen den Interessen der Unionisten, die Teil des Vereinigten Königreichs bleiben wollen, und den Beziehungen zur EU mit sich.
Regierungsbildung in Belfast hänge auch von London ab
Der Chef der unionistisch-protestantischen Partei DUP, Jeffrey Donaldson, machte bereits klar, dass das Gelingen einer Regierungsbildung in Belfast auch von London abhängen wird. Seine Partei werde sich einer Einheitsregierung mit Sinn Fein nicht anschließen, solange der Streit zwischen London und Brüssel um das sogenannte Nordirland-Protokoll nicht gelöst sei.
Außerdem rückt mit dem Ergebnis in Nordirland neben Schottland ein weiterer britischer Landesteil einem Referendum darüber näher, ob er sich vom Vereinigten Königreich abspalten will.
Spitzenkandidatin Michelle O'Neill, die ihr Ziel einer Vereinigung Nordirlands mit Irland im Wahlkampf nicht in den Vordergrund stellte, kündigte am Wochenende bereits an, eine „Debatte über die Zukunft unseres Landes“ beginnen zu wollen. Schottlands Regierungschefin Nicola Sturgeon - eine der größten Unabhängigkeitsbefürworterinnen - gratulierte Sinn Fein überschwänglich. (dpa)