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Gegen die BildungskatastropheDroht eine verlorene Generation Corona?

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Schüler mit Masken

Schüler mit einer Maske im Unterricht

Berlin – Sie tippen und telefonieren den ganzen Tag: Am Justus-von-Liebig-Gymnasium in Neusäß bei Augsburg ist der Computerraum derzeit ausgelastet. Es sitzen aber keine Schüler an den Geräten - stattdessen sind es neun Offiziersanwärter, die das örtliche Gesundheitsamt bei der Corona-Nachverfolgung unterstützen und dafür kurzzeitig in die Schule gezogen sind. Schulleiter Stefan Düll, gleichzeitig stellvertretender Vorsitzender des Deutschen Philologenverbands, hat die Gäste gerne aufgenommen und betont, dass man bereit sei, weiter zu helfen. Corona gehe schließlich alle an.

Schwierige Zeiten in der Bildung

Es sind ungewohnte und schwierige Zeiten für Deutschlands Schulen. Für Rektoren, Lehrer und Schüler. Die meisten eint derzeit, dass sie froh sind, wieder an ihre Schulen zurückgekehrt zu sein. Rektor Düll betont, es sei richtig „dass die Politik versucht, den Schulunterricht im Klassenzimmer aufrechtzuerhalten“. Viele Schüler bräuchten persönliche Ansprache und Motivation. Und ihre Klassenkameraden. Aber es müsse Schutzmaßnahmen. „Bei geeigneten Masken müssen nicht ganze Klassen in Quarantäne, wenn ein Positiv-Fall darin auftritt.“ Er halte eine Maskenpflicht im Unterricht für alle Stufen für gerechtfertigt. „Masken für Grundschüler sind sicher nicht schön – aber es hat offensichtlich etwas gebracht. Die Politik hätte sich auch über den Sommer bemühen können, sicherere Masken für Schüler und Lehrer bereitzustellen“, kritisiert er.

Düll plädiert dafür, Lehrpläne flexibel zu gestalten und notfalls anzupassen. Einen Notenbonus lehnt er ab: „Das ist schlicht unfair. Wir haben sehr viele Schüler, die sich genauso einbringen wie im Präsenzunterricht. Es wäre ein Geschenk an Faulenzer, die dann möglicherweise in die nächste Klassenstufe vorrücken könnten. Würde das um sich greifen, hätten wir ein echtes Bildungsproblem und Bildungsdefizite en groß. Wir müssen am Notenleistungsprinzip festhalten.“

Soziale Ungleichheit als Problem

Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft sieht das etwas anders. Ilka Hoffmann, GEW-Vorstandsmitglied Schule, sagt, Kinder und Jugendliche hätten auch während des Lockdowns viel gelernt. Ein großes Problem aber sei die soziale Ungleichheit: Armut und beengte Wohnverhältnisse hätten dazu geführt, dass benachteiligte Kinder und Jugendliche noch weiter abgehängt worden seien. „Nicht wenige haben auch durch mehr häusliche Gewalt, Ängste und mangelnde Kontakte seelischen Schaden genommen. Das wird in der Öffentlichkeit viel zu wenig beachtet“, kritisierte die Gewerkschafterin.

Fatal sei die Situation besonders für die Kinder in den Grundschulen, da hier die Grundlagen für das weitere Lernen gelegt werden. „Auch hier leiden ohnehin benachteiligte Kinder besonders unter der Corona-Pandemie, da die Schule für sie die Institution ist, die ihnen Bildung und Teilhabemöglichkeiten bietet“. Deswegen müssten Abstriche gemacht werden. Schulen müssten vor allem über Klassenarbeiten, Tests und Abschlussprüfungen nachdenken.Sollten die Klassen aufgeteilt werden oder in Turnhallen umziehen? Hoffmann sieht die beste Möglichkeit darin, Lerngruppen zu verkleinern und zusätzliches Personal einzustellen.

Corona löst Krise aus

Doch alle Konzepte ändern nichts an der grundsätzlichen Krise, in die Corona die Bildungspolitik gebracht hat. Allen Schulgipfeln im Kanzleramt zum Trotz sieht Lehrerpräsident Heinz-Peter Meidinger große Probleme auf die Generation Corona zukommen. „ Auch wenn ich noch nicht von einer verlorenen Generation sprechen würde: Ich warne davor, das Problem klein zu reden oder zu verdrängen. Die Monate des Lockdowns und der anschließenden Phase des Wechselbetriebs haben bei vielen Schülerinnen und Schülern zu erheblichen Lernrückständen geführt, die nicht so ohne Weiteres, sozusagen nebenbei mit Bordmitteln, aufzuholen sind“, sagt der Präsident des Deutschen Lehrerverbands dieser Redaktion.

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Landesregierungen und Schulministerien versuchen derzeit, Härten für die betroffenen Schüler durch Verordnungen und Regelungen zu vermeiden. Durch großzügige Versetzungsregelungen, veränderte Abschlussprüfungen und auch durch den vorübergehenden Verzicht auf vorgeschriebene Lehrplaninhalte. „Allerdings bleibe das Grundproblem unberührt, nämlich die Frage, ob wir nicht in den nächsten Jahren Schulabsolventen haben werden, denen wegen der Coronakrise deutlich weniger Wissen und Kompetenzen vermittelt wurde und die deshalb geringere Zukunftschancen haben“, beklagt Meidinger.

Wer Schulen offenhalten wolle, muss auch alles dafür tun, dass der Unterrichtsbetrieb sicher ist. „Da beobachte ich aber derzeit ein Komplettversagen der Bildungspolitik. Weder gibt es klare, an das Infektionsgeschehen gekoppelte Stufenpläne für eine Verschärfung von Hygieneschutzmaßnahmen noch eine umfassende Nachrüstung mit Raumluftfilteranlagen wegen nicht ausreichender Lüftungsmöglichkeiten, noch einheitliche Vorgaben für den Einsatz von Atemschutzmasken im Unterricht.“

Lauterbach verlangt mehr Flexibilität

Versäumnisse beklagt auch der SPD-Gesundheitsexperte und Epidemiologe Karl Lauterbach. Er verlangt mehr Flexibilität. „Wir werden mit großer Sicherheit im ersten Halbjahr 2021 einen Impfstoff für Risikogruppen haben. Schüler gehören nicht dazu. Sie sind bislang nicht Teil der Impfstudien“, sagt Lauterbach. Schulen müssten noch viele Monate lang sicherstellen, dass sie nicht zu Brennpunkten der Pandemie werden.

Eine Möglichkeit sieht der Mediziner in der Aufteilung von Klassen: Die Kultusminister sollten den Schulen mehr Möglichkeiten geben, die Klassen flexibel aufzuteilen. „Kommt es dann zu einem Infektionsfall, könnte der Unterrichtsausfall um zwei Drittel reduziert werden. Zudem braucht es mobile Luftfilteranlagen für alle engen Klassenräume, die schlecht zu lüften sind. Der Umbau fester Klimaanlagen in Schulen ist Wunschdenken, so viel Zeit haben wir nicht“, stellt Lauterbach fest.

Doch die Politik tut sich schwer mit flexiblen Wegen in der Krise. Das Land NRW stoppte diese Woche den „Solinger Weg“ zur teilweisen Wiedereinführung von Homeschooling und entschied, dass Schüler nicht von zu Hause aus unterrichtet werden dürfen. Die Stadt hatte sich aufgrund hoher Infizierten-Zahlen zu diesem Vorstoß entschlossen. Meidinger kritisiert das massiv: „Dass im Lockdown-light-Monat November die Menschen aufgefordert werden Abstand zu halten, Atemschutzmasken zu tragen und sich maximal zwei Haushalte treffen dürfen, während an Schulen bis zu 30 Haushalte ohne Abstand und oft auch ohne Maske dicht an dicht im Klassenzimmer sitzen - dann versteht das doch niemand.“