- Was tun gegen den Pflegenotstand? Schon seit Jahren klagen Fachkräfte über Überlastung und Dauerstress.
- An den NRW-Unikliniken wird deswegen gestreikt.
- Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach will das Problem jetzt lösen.
- Was ist von den Plänen zu halten?
Das sperrige Zauberwort lautet Pflegepersonalregelung – im Fachjargon PPR 2.0. Mit dem Instrument soll ermittelt werden, wie viele Pflegekräfte es auf Krankenhausstationen braucht, um gute Pflege für die Patienten bei anständigen Arbeitsbedingungen der Belegschaft sicherzustellen.
Jens Spahn, Vorgänger von Karl Lauterbach (SPD) als Gesundheitsminister, ließ einen entsprechenden Vorschlag, auf den sich die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG), der Pflegerat und die Gewerkschaft Verdi schon 2020 geeinigt hatten, in der Schublade liegen. Der CDU-Politiker hielt die Pläne für nicht zielführend und zu teuer. Jetzt wagt sich Lauterbach an die Großbaustelle.
Was ist das Problem der Pflegebranche?
Der Teufelskreis aus Überlastung, Kündigungen und folglich noch mehr Stress für die verbliebenen Pflegekräfte ist ein Dauerthema. Die letzte Regierung reformierte die Ausbildung, die Zahl der Azubis stieg deutlich. Aber viele starten nach dem Abschluss gar nicht in den Beruf. Am Alltag der Beschäftigten hat sich nichts zum Guten verändert. In NRW kämpfen Pflegekräfte deswegen seit zehn Wochen an sechs Uni-Kliniken mit Streiks für bessere Arbeitsbedingungen.
Wie will Lauterbach jetzt Abhilfe schaffen?
Der Gesundheitsminister will umsetzen, was SPD, Grüne und FDP im Koalitionsvertrag vereinbart haben: die „kurzfristige“ Einführung einer Pflegepersonalregelung, die für einen „bedarfsgerechten Qualifikationsmix“ sorgen soll.
In einem ersten Schritt muss erstmal ermittelt werden, wie viel Personal theoretisch gebraucht wird, damit es für Patienten und Pflegekräfte gut laufen kann. Laut Lauterbachs Eckpunkten wird dazu am 1. Januar kommenden Jahres ein Pilotverfahren gestartet. Der Clou des Ansatzes: Die Pflegerinnen und Pfleger selbst sollen ihre Patienten in acht „Leistungsstufen“ einordnen, aus denen sich der tatsächliche Pflegeaufwand minutengenau bemisst. Daraus ergibt sich dann eine Soll-Besetzung.
Ein Jahr später will Lauterbach die Personalregelung für alle Kliniken verpflichtend einführen. Ausgenommen bleiben Krankenhäuser, die Vereinbarungen getroffen haben, ihre Belegschaft in Eigenregie zu entlasten. In der dritten Stufe ab Januar 2025 schließlich wird geschaut, ob die Kliniken die in der ersten Stufe ermittelte Soll-Besetzung wirklich einhalten. Wird dies „dauerhaft“ nicht geleistet, „werden Sanktionen vorgesehen“, heißt es in den Eckpunkten. Wie die Strafen aussehen könnten, bleibt offen.
Ist das der große Wurf, der alle Probleme löst?
Nach Berechnungen der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG) dürfte herauskommen, dass der Pflegezeit-Bedarf gegenüber der heutigen Situation um 8,1 Prozent steigt, also 8,1 Prozent mehr Personal benötigt würde. Verdi-Vorstandsmitglied Sylvia Bühler reagierte am Donnerstag geradezu euphorisch: Es zeichne sich „endlich eine nachhaltige Lösung für die Entlastung der Beschäftigten ab“, sagte sie. „Minister Lauterbach macht damit klar, dass er die strukturelle Personalnot in den Kliniken ernsthaft angehen will.“DKG-Chef Gerald Gaß begrüßte im Gespräch mit unserer Redaktion zwar, dass Lauterbach das Instrument endlich aus der Schublade holt. Er sieht aber in der Drohung mit Sanktionen an die Krankenhäuser ein „falsches Signal“.
Die Befürchtung dahinter: Die Kliniken könnten auf dem leer gefegten Arbeitsmarkt nicht genug Fachkräfte finden, um das Personal-Soll zu erreichen. Schon jetzt haben viele Häuser gewaltige Probleme, ihre Stellen zu besetzen. Und alle Versuche, Pflegerinnen und Pfleger aus dem Ausland nach Deutschland zu holen, waren von wenig Erfolg gekrönt.
Was sagen die Krankenkassen zu Lauterbachs Plänen?
Die sind extrem skeptisch. „Wir haben die große Sorge, dass auf dem angekündigten Weg die Qualität der Pflege ebenso auf der Strecke bleibt, wie der längst überfällige Schritt zum Bürokratieabbau durch die zeitgemäße Nutzung der Digitalisierungsmöglichkeiten“, sagte Florian Lanz, Sprecher des GKV-Spitzenverbandes, im Gespräch mit unserer Redaktion.Der Gegenvorschlag der Krankenkassen: eine „automatisierte Ableitung des täglich notwendigen Pflegepersonalbedarfs für die einzelnen Stationen“, was durch digital erfasste Diagnosen der Patienten ein Leichtes sei. Lanz warf Lauterbach vor, ein dafür vorliegendes Konzept zu „ignorieren“.
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Die Kassen kritisieren aber nicht nur den Gesundheitsminister, sondern auch die Krankenhäuser. Diese würden nicht genug Personal einstellen, obwohl ihnen „jede Pflegekraft von den gesetzlichen Krankenkassen finanziert wird“, sagte Lanz. Die derzeitigen Streiks in NRW bezeichnete er als „Armutszeugnis“ für die Personalpolitik der Kliniken.
Wie geht es jetzt weiter auf dem Weg zu einer Lösung?
Aus den vage formulierten Eckpunkten muss erstmal ein Gesetzentwurf werden. Was im Gesetzgebungsprozess übrig bleibt, ist schwer vorherzusagen. Selbst wenn in anderthalb Jahren ein angemessener Personalbedarf ermittelt sein wird, müssten zu dessen Deckung ausreichend Fachkräfte gefunden werden.Große Hoffnung im Gesundheitsministerium: Ab kommendem Herbst greift eine Tarifpflicht. Das könnte zu höheren Gehältern führen und Pflegerinnen und Pfleger zur Rückkehr oder zum Start in ihren Beruf motivieren. Aber auch dahinter stehen viele Fragezeichen.