Vor einem Jahr, am 27. Februar 2022, stellte Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) eine „Zeitenwende“ fest. Welche Konsequenzen hat die Regierung daraus für die Bundeswehr gezogen?
Ernüchternde BilanzAusstattung der Bundeswehr geht nur langsam voran
Was den Zustand der Bundeswehr betrifft, sieht die Bilanz nach einem Jahr Ukraine-Krieg ernüchternd aus. Zwar gewöhnen sich Truppe und Gesellschaft an den Gedanken, dass Bündnis- und Landesverteidigung wieder wichtig sind. Doch ansonsten gibt es von allem zu wenig: Soldaten, Ausrüstung, Waffensysteme – wohin man blickt, herrscht Mangel. Das Sondervermögen sollte es nun richten, 100 Milliarden Euro sagte der Kanzler zu. Inzwischen ist klar: Das wird nicht reichen, bei Weitem nicht.
Das Sondervermögen
Der Bundeshaushalt hinkt hinter dem von Scholz gesteckten Nato-Ziel, zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Verteidigung auszugeben, noch um fast 20 Milliarden Euro hinterher. Die Schulden für das 100 Milliarden schwere Sondervermögen sind zwar nach monatelanger Verhandlung mit der Union und einer Grundgesetzänderung bewilligt, aber passiert ist noch nicht viel.
Die Projekte, die seitdem angegangen wurden, kann man an einer Hand abzählen. Dabei wäre Tempo angebracht, denn die Zinsen, die auf die nötigen Schulden gezahlt werden müssen, und die Preise für Rüstungsgüter steigen inflationsbedingt rasant. Um 25 Prozent, also mehr als das Doppelte der Gesamt-Inflationsrate, ist der Preis für simple Handwaffenmunition etwa in den vergangenen Monaten gestiegen.
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Gestrichene Projekte
Ende vergangenen Jahres war die Rede von acht Milliarden Euro, die für Zinszahlungen aus dem Sondervermögen abgehen. Schon das war mehr als erwartet und hatte zur Folge, dass zahlreiche Projekte aus der Wunschliste der Armee gestrichen werden mussten.
Viele davon waren ursprünglich sogar für den herkömmlichen Verteidigungshaushalt 2022 vorgesehen, sodass Projekte, die sowieso gekommen wären, wegen des Sondervermögens nun auf unbestimmte Zeit verschoben wurden. Hinter den Kulissen ist mittlerweile die Rede von zweistelligen Milliardensummen, und die nächste Kürzungsrunde ist abzusehen.
Komplexes Beschaffungswesen
Das alles trifft auf ein Beschaffungswesen, das in Deutschland einzigartig komplex ist. Jedes Projekt ist eine bürokratische Mammutaufgabe, und es dauert oft Monate und gar Jahre, bis es zu ersten Ergebnissen kommt. Allein eine abstimmungsreife Vorlage für den Haushaltsausschuss zu erarbeiten, dauert laut Verteidigungsministerium Wochen.
Gleichzeitig kritisieren die Abgeordneten im Bundestag zunehmend, dass bei ihnen nichts zum Abstimmen ankommt. Während sich Politik und Verwaltung gegenseitig den schwarzen Peter zuschieben, bleibt die Folge gleich: Nichts passiert.
Rüstungsfirmen warten auf Aufträge
Dabei mangelt es auch, aber nicht ausschließlich an Panzern, Kriegsschiffen und Flugzeugen. Wie es der Vizeadmiral und Generalinspekteur der Marine, Jan Christian Kaack, ausdrückt, fehlt es an sieben Dingen: „Munition, Munition, Munition, Ersatzteile, Ersatzteile, Ersatzteile und Führung.“ Die ersten sechs Mängel sind dafür verantwortlich, dass immer wieder Panzer nicht fahren, Flugzeuge nicht fliegen und Geschütze nicht schießen.
Die Rüstungsindustrie wiederum wartet auf Aufträge – und wundert sich. Die Bundeswehr gibt Munition und Großgerät an die ukrainische Armee ab, nachbestellt wird wenn überhaupt eher zögerlich – und das nach einem Jahr Krieg mit ungewissem Ausgang. Das kann man fahrlässig nennen, zu verstehen ist es nicht. „Die Bundeswehr läuft langsam leer“, sagt etwa Geschäftsführer Stefan Stenzel von der Wedeler Rüstungsfirma Vincorion im Interview.
Und dass das Sondervermögen eigentlich 400 Milliarden Euro betragen müsste, um die Bundeswehr vernünftig auszustatten. Denn das, was sie hat, ist alt: Der Marder hat 50 Jahre auf dem Buckel, der Leopard 2 immer noch 30.
Logistik als Nadelöhr
Anfang des Jahres war etwa nur ein Drittel der Panzerhaubitzen bei der Bundeswehr einsatzbereit. Lieferzeiten für Ersatzteile sind lang und die Versorgung ist oft knapp. Auch weil sich die „Just in Time“-Mentalität aus der Wirtschaft in der Armee durchgesetzt hat. Schließlich ist Lagerhaltung teuer. Keine Lagerhaltung aber ist noch teurer, wie sich jetzt zeigt: Selbst simple Munition zu beschaffen, ist schwierig.
Oft mangelt es an simplen Baumwollfusseln, die dem Pulver beigemischt werden, um Rauch zu vermeiden. Bei diesen ist der Westen massiv von China abhängig. Für kleine Auslandseinsätze mit massiver internationaler Unterstützung vor allem durch die USA reicht das alles aus. Für die Bündnis- und Landesverteidigung aber sieht es düster aus.
Die Leidtragenden sind die Soldaten. Nicht nur, weil ihr Leben im Ernstfall von teilweise mangelhafter und lückenhafter Ausrüstung abhängt. Sie leiden seit Jahren unter schlechter Ausstattung, schlechten Unterkünften, schlechten Ausbildungsbedingungen. Eine Eliteeinheit wie etwa die Kampfschwimmer und Minentaucher warten in Eckernförde seit nunmehr zwölf Jahren auf die Wiedereröffnung ihrer Taucherübungshalle.
Die sollte saniert werden, Baumängel und Gerichtsverfahren verhindern seither die Fertigstellung. Und das ist nur ein Beispiel unter vielen: Die Wehrbeauftragte Eva Högl (SPD) spricht in ihrem Jahresbericht von „Kasernen in erbärmlichem Zustand“. Wen man da zum Dienst an der Waffe begeistern soll, fragt sich nicht nur so mancher Bundeswehrangehörige.
Personalsorgen
Personell ist von einer Zeitenwende bislang nicht viel zu spüren, stattdessen tritt die Bundeswehr auf der Stelle. Das einstige Ziel, von 183000 auf 203000 Soldaten bis 2025 zu wachsen, musste Ex-Ministerin Christine Lambrecht kurz vor ihrem Rücktritt noch flugs auf das Jahr 2031 schieben. Die verkleinerten Streitkräfte, die für Experten eher eine spezialisierte Interventionsarmee für das Ausland statt eine schlagkräftige Landesverteidigung darstellen, wollen einfach nicht wachsen.
Zudem verzeichnete Deutschland im Jahr der Zeitenwende einen „Run“ auf die Kriegsdienstverweigerung. 951 Anträge gingen bei den Behörden ein. Knapp die Hälfte der Anträge kommen von Soldaten und Reservisten, die den Dienst an der Waffe aus Gewissensgründen verweigern wollen.
Doch Gewissen können sich auch wandeln. Denn parallel haben knapp 500 Menschen ihre einst erwirkte Kriegsdienstverweigerung auch widerrufen.
Diskussion um die Wehrpflicht
Stärker wiegt da schon die Zahl der freiwillig Wehrdienstleistenden. 9500 Soldaten wurden nach offiziellen Zahlen im Jahr 2022 angeworben. Es ist der beste Wert seit zehn Jahren. Die Abbrecher-Quote war mit mehr als 22 Prozent jedoch weiterhin hoch.
Die offiziellen Zahlen zeigen ohnehin, dass die Bundeswehr niemanden mehr verlieren darf. So fehlen schon jetzt unter anderem etwa 50000 Reservisten.
Zwar steigt die Zahl der Dienstposten seit einigen Jahren langsam wieder an, doch auch im Kriegsjahr 2023 blieb noch jede sechste Stelle bei Offizieren, Unteroffizieren und in den Mannschaften unbesetzt. Wohl wenig tröstlich, dass es prozentual dennoch der beste Wert seit dem Aussetzen der Wehrpflicht ist. Und kaum verwunderlich, dass genau diese Wehrpflicht – in unterschiedlichen Modellen – bei politischen Akteuren fast aller Couleur plötzlich wieder ein Thema ist.