Berlin – Nach den Ausgangsbeschränkungen im coronabelasteten Kreis Berchtesgadener Land halten es Politiker und Kommunalvertreter für möglich, dass ähnliche Maßnahmen auch anderenorts nötig werden.
Das hänge vom Infektionsgeschehen und dessen Eingrenzbarkeit ab, sagte Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) im ZDF. „Das kann dann tatsächlich eben auch in anderen Bereichen lokal, regional zu entsprechenden Maßnahmen kommen. Das ist ja genau der Ansatz, den wir haben, nicht bundesweit einheitlich, sondern immer lageangepasst die Maßnahmen zu ergreifen. Und ich bin überzeugt, dann haben sie auch eine bessere Akzeptanz.”
Auch Hessens Ministerpräsident Volker Bouffier (CDU) schloss das nicht aus. „Die Lage ist ernst, wir haben ein äußerst dynamisches Geschehen”, sagte er den Zeitungen der Funke-Mediengruppe. Der Epidemiologe und SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach sagte diesen Blättern: „Dinge wie in Berchtesgaden werden wir jetzt häufiger sehen. Wir können nur reagieren durch lokale Shutdowns, insofern sind die auch angemessen.”
Beim Städte- und Gemeindebund wird das auch für große Städte nicht ausgeschlossen. „Wenn die Zahlen so hochgehen, wie jetzt im Berchtesgadener Land, dann kann ich mir das - leider - auch in größeren Städten vorstellen”, sagte Hauptgeschäftsführer Gerd Landsberg der „Bild”-Zeitung. Zwar sei der Verwaltungsaufwand zur Durchsetzung in Großstadtbezirken wie etwa Berlin-Neukölln „deutlich höher”, aber zu bewältigen.
Der bayerische KreisBerchtesgaden liegt bei den Corona-Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner binnen sieben Tagen mit 236 bundesweit mit Abstand an der Spitze. Erstmals seit dem Frühjahr ist das Verlassen der eigenen Wohnung dort seit Dienstag nur noch mit triftigem Grund erlaubt. Schulen und Kitas wurden geschlossen.
Bayern insgesamt liegt inzwischen ebenfalls über dem bundesweit vereinbarten Warnwert von 50. Ministerpräsident Markus Söder (CSU) will am Mittwochmittag im Landtag eine Regierungserklärung zu seiner Strategie im Kampf gegen das Virus abgeben. Er fährt einen vorsichtigen und eher reglementierenden Kurs, wird dafür aber zunehmend auch kritisiert. Andererseits weiß er sich mit einer Mehrheit der Bürger einig, die laut bundesweiten Umfragen die Maßnahmen im Großen und Ganzen richtig finden. Zudem liegen auch in anderen Kreisen die Infektionszahlen weit jenseits von 100.
Der stellvertretende Unionsfraktionsvorsitzende Carsten Linnemann (CDU) wandte sich dagegen, durch „immer größere Drohkulissen” und immer mehr „Daumenschrauben” im Kampf gegen die Pandemie „ein ganzes Land für die Verfehlungen einiger weniger in Geiselhaft zu nehmen”, wie er in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung” sagte. „Wir hören zu oft die allerschärfsten Mahnungen von der politischen Spitze, aber zu wenig Differenzierung.” 95 Prozent der Bürger hielten sich an die Regeln. Gehindert werden müssten diejenigen, „die immer noch mit mehreren hundert Familienmitgliedern Hochzeiten feiern”.
Allerdings ist die Ausbreitung des Virus vielerorts gerade nicht mehr auf einzelne Ereignisse zurückzuverfolgen. Für Berlin etwa hatte Gesundheitssenatorin Dilek Kalayci gesagt, bei rund 90 Prozent der Neuinfektionen sei die Quelle nicht eindeutig festzustellen, es gebe eine sehr breite Streuung.
Über die angemessene Tonlage in der Diskussion ist sich selbst die Ärzteschaft nicht einig. Wie der Präsident der Bundesärztekammer, Klaus Reinhardt, warnte auch der Vizechef der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), Stephan Hofmeister, vor Angstmache: „Wir glauben, dass etwas mehr Ruhe und Sachlichkeit und etwas weniger Bedrohlichkeit vielleicht helfen könnten, die nächsten eineinhalb Jahre auch noch zu überstehen”, sagte er der dpa. Dagegen hält die Chefin der Ärztegewerkschaft Marburger Bund, Susanne Johna, die Warnung von Kanzlerin Angela Merkel (CDU) vor einem Kontrollverlust durchaus für berechtigt. „Es ist richtig, ein klares Lagebild zu zeichnen und auf Konsequenzen hinzuweisen, sollte sich der aktuelle Trend fortsetzen”, sagte sie der „Passauer Neuen Presse”.
Die SPD-Vorsitzende Saskia Esken unterstützt die Forderung, bei den Entscheidungen über Corona-Maßnahmen die Parlamente stärker einzubinden. Politik und Verwaltung müssten zwar schnell auf Entwicklungen reagieren können - viele Maßnahmen griffen jedoch tief in die Freiheitsrechte der Bürger ein, sagte Esken der dpa. „Ich finde es deshalb wichtig, dass wir ihre Legitimität in den Parlamenten immer wieder debattieren und nötigenfalls überarbeiten, um die Akzeptanz und Gerichtsfestigkeit der Pandemiebekämpfung zu stärken.”
Der FDP-Vorsitzende Christian Lindner schrieb in einem Beitrag für die „Welt”, der Bundestag müsse sich die Rechtsetzung wieder zurückholen. Sein Stellvertreter Wolfgang Kubicki griff in der Zeitung namentlich Söder an. Der trete „sehr breitbeinig” auf, könne aber nicht nachweisen, „dass er mit seinen Maßnahmen das Infektionsgeschehen besser im Griff hat als andere - im Gegenteil”.
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