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Berater des Erzbistum Köln„Gutachten zu Missbrauch leidet an Knalleffekten“

Lesezeit 9 Minuten
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Manfred Lütz 

  1. Die Kölner Anwaltskanzlei Gercke hat Fälle von sexuellem Missbrauch im Erzbistum Köln untersucht und in einem Gutachten bewertet.
  2. Dem Bistum und auch dem Vatikan stand Manfred Lütz viele Jahre in solchen Fällen als Berater zur Seite.
  3. Er ist einer der bekanntesten deutschen Psychiater und hat auch katholische Priester behandelt, die Sexualdelikte begangen hatten. Das Gercke-Gutachten sieht er kritisch.
  4. Mit ihm sprach Ingo Schmitz.

Das Gercke Gutachten nennt Sie als Teil des Systems Kirche. Da schwingt der Vorwurf mit, Sie seien bei Ihren fachlichen Einschätzungen von Missbrauchsfällen für das Erzbistum Köln als katholischer Theologe befangen gewesen.Lütz: Das Gutachten unterstellt, ich hätte „vielfach gegutachtet“. Das ist falsch. In Wahrheit habe ich kein einziges Gutachten gemacht. Ich habe Herrn Gercke das geschrieben und er hat das damit entschuldigt, dass er einen weiteren Gutachtenbegriff habe, so dass ein Dreizeiler von mir, in dem ich lapidar feststelle, dass es bei jemandem keinen Therapiebedarf gebe, zum Gutachten hochgejazzt wird. Herr Gercke schrieb mir sogar ausdrücklich, er würde keineswegs behaupten, dass meine fachlichen Einschätzungen nicht objektiv getroffen worden seien. In der Sache selber hat Herr Gercke aber ganz recht und ich vertrete genau dieselbe Ansicht, dass nicht irgendwelche katholische Psychiater Prognosegutachten machen sollten, sondern externe forensische Psychiater. Ich habe das 2004 der Deutschen Bischofskonferenz dringend ans Herz gelegt. Deswegen habe ich selber solche Gutachten abgelehnt.

Weil Sie den Vorwurf der Befangenheit befürchteten?

Nein, weil ich mich da nicht auskenne. In solchen heiklen Fragen sind nur forensische Psychiater kompetent. Ich habe damals die führenden deutschen Forensiker dringend gebeten, für die Bischofskonferenz solche Gutachten zu machen. Die gutachten normalerweie bei Sexualmorden, aber auch bei so spektakulären Fällen wie in Halle oder in Kassel. Es hat mich Mühe gekostet, die zu überzeugen, dass die Taten von Priestern zwar in der Regel nicht so spektakulär erscheinen, aber dass sie besonders erschütternd sind, weil Priester oft eine Art Vaterrolle haben und die Ausnutzung ihrer geistlichen Autorität besonders verheerend bei Kindern und Jugendlichen wirkt. Diese jungen Menschen verlieren oft nicht nur das Vertrauen in Menschen sondern auch in Gott.

Ich habe den Eindruck, dass Gercke diesen wichtigen Aspekt nicht verstanden hat. Es geht bei Gutachten nicht so sehr um katholisch oder nicht katholisch, sondern vor allem um kompetent oder nicht kompetent. Keiner der von mir empfohlenen Gutachter ist übrigens katholisch. Im Übrigen hat es ein Gschmäckle, wenn jemand, der von der Kirche hoch bezahlt wird und ein Gutachten erstellt, das den Auftraggeber freispricht, sich selber dennoch immer als „unabhängig“ beschreibt, aber andere Leute nur deswegen in ein merkwürdiges Licht rückt, weil sie sich kostenlos in der Kirche engagieren. Ich zum Beispiel habe von der Kirche nie einen Cent für meine Tätigkeiten genommen.

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Es sind von Ihnen Einschätzungen in dem Gutachten wiedergegeben, wie: Bei einem beschuldigten Priester bestehe kein Therapiebedarf. Mit welcher Sicherheit kann so etwas überhaupt attestiert werden?

Wenn keine psychische Störung vorliegt, gibt es keinen Therapiebedarf. Aber ich vermute, dass Ihrer Frage das entscheidende Missverständnis zugrunde liegt, dem leider auch die kirchlichen Oberen oft unterlagen, dass nämlich sexueller Missbrauch irgendwie eine psychische Krankheit sei. Sexueller Missbrauch ist aber zuerst einmal ein Verbrechen, das bestraft gehört. Gerade in den 70-er bis 90-er Jahren des vergangenen Jahrhunderts war in Kirchenkreisen „Psychologie“ sehr en vogue. Man schickte solche Täter erstmal zum Psycho-Experten, damit war der Täter irgendwie Patient und niemand dachte mehr an Strafe.

Das waren oft katholische Vertrauenstherapeuten, die dann nach ihrer Therapie auch noch gleich das Gutachten machten, das feststellte, dass der Täter jetzt wieder eingesetzt werden könne oder sogar – aus therapeutischen Gründen – müsse. Im Fall 18 bei Gercke können Sie so etwas nachlesen. Ich hatte entschieden für Suspendierung dieses Priesters plädiert, der Entsetzliches getan hatte, aber dann hatte man ihn – nach „Therapie“ – wiedereingesetzt. Gercke hat daran nichts auszusetzen, aber das waren aus meiner Sicht die entscheidenden Fehler.

Nochmals zum Kern der Frage: Mit welcher Sicherheit können Sie sagen, dass bei einem mutmaßlichen Täter kein Therapiebedarf besteht?

Wenn da ein Mann vor mir sitzt, der mir sagt, er wolle nicht über den Missbrauch reden, das sei auch gar nicht schlimm gewesen, ihm gehe es eigentlich gut und er komme gerade von einer Flugreise nach Bangkok, dann besteht da kein Bedarf nach Therapie, sondern da müssen ganz andere Konsequenzen gezogen werden. Ich habe dann immer wieder meinen kirchlichen Einfluss genutzt, damit die Verantwortlichen die Täter eben nicht auf die Psycho-Schiene abschoben, übrigens auch dafür, dass mit den Opfern geredet wurde. In dem einzigen Fall, wo ich einen Täter länger behandelt habe, habe ich gleich zu Anfang den Personalchef gedrängt, mit mir zum Opfer zu fahren, um zu klären, ob es Therapie wünsche und auf eine Anzeige bei der Staatsanwaltschaft zu drängen. Das war Anfang der 90-er Jahre, da war das noch gar nicht üblich.

Das Gercke-Gutachten zieht sich auf den Standpunkt einer rechtlichen Beurteilung zurück. Die Frage, inwieweit der Zölibat oder die katholische Sexualmoral Teil des Problems ist, blieb dadurch bewusst ausgeklammert. Gibt es aus Ihrer Sicht da einen Zusammenhang?

Ich fand die Ankündigung und auch die Präsentation der Studie unangenehm inszeniert und auf durchschaubare Effekte aus. Die Studie selber ist über weite Strecken aber solide Jurisprudenz. Dazu gehört, dass man sich nicht auf Spekulationen über populäre Themen einlässt, mit denen man Schlagzeilen machen kann, zu denen man aber nicht mehr Kompetenz hat als ein Kieferchirurg, wie Herr Gercke sich ausdrückte. Zu Ihrer Zölibatsfrage: Die Leygraf-Studie aus dem Jahr 2012 sagt eindeutig, dass es wissenschaftlich keinerlei Hinweise auf einen Zusammenhang zwischen Zölibat und Missbrauch gibt. Auch viele Opfervertreter haben den Eindruck, dass das Missbrauchsthema dazu genutzt wird, ewig unabgeschlossene Kirchendebatten wiederaufzunehmen, aber eben nicht mit den Opfern zu reden und sich für sie einzusetzen.

Aber wird so nicht eine Diskussion abgewürgt, die zum Zweck des Opferschutzes geführt werden muss? Vielleicht suchen Täter bewusst oder auch unterbewusst das kirchliche Umfeld?

Zum Zweck des Opferschutzes müssen Sie nicht über katholische Sexualmoral und Frauenordination reden, sondern über eine Professionalisierung der Prävention, über einen wissenschaftlich seriöseren Umgang mit unklaren Beschuldigungen, über vielleicht mehr Geld für die wirklich schweren Fälle. Pädophile Täter suchen sich ein Umfeld, wo sie auf Kinder treffen und so lange die Kirche die Jugendarbeit nicht aufgibt - was ihr Ende wäre – wird sie das Problem haben.

Ich habe 2003 mit Kardinal Ratzinger im Vatikan den ersten Missbrauchskongress organisiert mit den führenden internationalen Experten und die drängendste Frage war für mich: Kann man schon bei Priesteramtskandidaten Pädophilie sicher feststellen? Das ernüchternde Ergebnis: Es gibt keine seriöse Methode, mit der das möglich ist. Deswegen müssen wir alles tun, damit man Auffälligkeiten sofort meldet und damit professionell umgeht. Übrigens bin ich schon seit 2010 der Auffassung, dass es eine wirklich unabhängige staatliche Untersuchung geben sollte: katholische und evangelische Kirche, Deutscher Olympischer Sportbund etc. Das fordern auch die Opferverbände. Die jetzt geplanten 27 Aufarbeitungskommissionen für 27 Diözesen sind aus wissenschaftlicher Sicht absurd und Klaus Mertes hat mit Recht Kritik an der Zusammensetzung geübt.

Sie meinen, in der evangelischen Kirche ist die Aufarbeitung von Missbrauchsfällen noch verbesserungswürdig?

Opferverbände sagen, dass es in der Evangelischen Kirche genauso viel Missbrauch gibt, aber das sind nur Spekulationen. Wissenschaftlich wäre natürlich schon sehr interessant, was es da für Unterschiede gibt.

Also war das Gerke-Gutachten unnütz, weil nicht unabhängig, nicht wissenschaftlich genug?

Wie gesagt, juristisch ist es solide gearbeitet. Es leidet allerdings an den ja durchaus beabsichtigten und auch angekündigten medialen Knalleffekten. Da wird dann die Tätigkeit von Erzbischof Heße, den ich als den fähigsten Personalchef des Erzbistums erlebt habe und der vor allem viel Empathie für die Opfer zeigte – wie Sie auch in der Rundschau dokumentiert haben - auf 11 Punkte reduziert. 11 „Pflichtverletzungen“. Ich habe mir alle 11 genau angeschaut. Bei Licht besehen sind sie ausnahmslos substanzlos: Eine offensichtliche Falschbeschuldigung, zwei Fälle, in denen die Staatsanwaltschaft keinen sexuellen Missbrauch erkannte, fünf Fälle, in denen die Betroffenen nicht reden wollten, wo ich als Psychiater, anders als der Jurist Gercke, sehr gut verstehen kann, wenn man da nicht weiter eindringt und schließlich 3 Fälle, in denen der ganz sinnlose Akt einer Meldung längst verjährter Fälle unterblieb. Ich finde es ungerecht, dass so jemand jetzt am Pranger steht, aber andere, die wichtige Entscheidungen unverantwortlich verzögert haben, ungeschoren davonkommen.

Sie finden keine guten Aspekte im Gerke-Gutachten?

Doch, ich sagte ja schon, dass ich das juristisch zum Teil wirklich gut gearbeitet fand. Es ist vor allem viel besser als das Münchner Gutachten, das ich eingesehen habe. Da gibt es allgemeine unbelegte Charakterstudien und man schwelgt in Kirchenpolitik. Gercke ist nüchterner und vor allem substanzieller. Man versteht die Fälle, wenn man das liest, kann sich selber ein Urteil bilden. Man kann da zum Beispiel lesen, dass es die „Vertuschung“, von der man überall lesen kann, so nicht gab.

Das hat mich überrascht, denn ich hatte bisher gedacht, na da wird doch vielleicht mancheiner eine Sache unter den Tisch gekehrt haben, den Täter absichtlich geschützt haben, so dass der schlimmstenfalls weiter sein Unwesen treiben konnte. Jedenfalls in den 24 kritisierten und ausführlich dokumentierten Fällen war das nie so. Wenn ein Fall auftrat, reagierte man manchmal eher wie ein aufgescheuchter Hühnerhaufen, Gercke beschreibt eindrucksvoll ein Zuständigkeitswirrwarr, eine eklatante Rechtsunkenntnis, eine chaotische Aktenführung.

Waren sie denn nicht auch Teil des „Hühnerhaufens“? Sie gehörten doch einem Beraterstab des Erzbistums Köln an...

...den ich 2015 aus Protest verlassen habe. Da gab es skandalöse Zustände, über die ich mich beschwert habe und als nichts geschah, bin ich ausgetreten. Da wurde z.B. bewusst die Staatsanwaltschaft nicht informiert, der Umgang mit Opfern war zum Teil empörend, auch der Umgang mit Falschbeschuldigungen war unprofessionell. Widerspruch war nicht mehr möglich. Es waren nicht die Mitglieder, es war die Leitung, die unfähig war.

War es nicht auch unmöglich, wie mit zurecht beschuldigten Priestern umgegangen wurde? Beschuldigte Laien wurde deutlich härter sanktioniert als des Missbrauchs überführte Kleriker.

Das empört einen – als Laie – besonders, aber dann doch nur auf den ersten Blick. Herr Gercke selber erklärt sehr richtig, dass Laien natürlich existentiell gewöhnlich überhaupt nicht so intensiv ans Bistum gebunden waren. Wenn ein Mitglied der Dombauhütte oder ein Pförtner im Generalvikariat entlassen wurde, dann bekam der sofort woanders einen Job. Bei Priestern war das ganz anders. Der Priester hatte nichts gelernt, was man ohne Weiteres woanders brauchen konnte, er hatte keine Frau, keine Kinder, früher war er, glaube ich, noch nicht einmal ausreichend versichert. Da konnte man anständigerweise nicht so leicht „kündigen“. Trotzdem mag der „klerikale Männerbund“ seine schädlichen Einflüsse gehabt haben.