Berlin – Es ist eine typische Antwort von Angela Merkel. So unaufgeregt, dass man erst auf den zweiten Blick die ganze Härte versteht. Der „Zeit“ sagt die Physikerin im 14. Jahr ihrer Kanzlerschaft: „Ich glaube, dass man als Politikerin oder Politiker einstecken können muss, dass man diesen Beruf nur ausüben kann, wenn man nicht zu schnell getroffen ist. Man muss sich auf die Sachaufgaben konzentrieren. Den Rest nehme ich zur Kenntnis.“ Merkel hat als Regierungschefin und langjährige CDU-Vorsitzende vieles zur Kenntnis genommen. Niederlagen kaschiert, Gemeinheiten geschluckt, Wut unterdrückt und geduldig auf den richtigen Moment gewartet. Und dann hat sie gehandelt. Kompromisse geschlossen, Konkurrenten aus dem Weg geräumt, Macht gesichert.
Zu Weihnachten regiert sie mit 5145 Tagen Deutschland einen Tag länger als es der erste Kanzler der Bundesrepublik, Konrad Adenauer, getan hat. Um den Rekord von gut 16 Jahren von Helmut Kohl einzuholen, müsste sie noch zwei weitere Jahre durchhalten und ihre vierte Legislaturperiode ganz zu Ende bringen. Aber eines hat sie schon jetzt allen ihren Amtsvorgängern voraus: Sie hat ihren Abschied selbst eingeleitet. Kein Rücktritt, keine Abwahl, kein Kleben am Amt.
Merkels Ausstieg aus der Politik war unemotional
Mag sein, dass sie ihrer Nachfolgerin an der CDU-Spitze, Annegret Kramp-Karrenbauer, im Bestreben, auch die nächste Kanzlerkandidatin zu werden, nicht sonderlich behilflich ist – Merkel hielte das für undemokratisch. Aber verhindern will sie die Saarländerin nicht. Adenauer setzte hingegen 1963 alles daran, Ludwig Erhard diesen Weg zu versperren. Und während Kohl erst Wolfgang Schäuble als seinen Nachfolger auserkor und ihn dann abservierte, weil er lieber selbst eine fünfte Legislaturperiode anstrebte, machte Merkel 2018 nach verlorenen Landtagswahlen einen Schnitt und kündigte ihren Ausstieg aus der Politik für spätestens 2021 an.
Es war der Befreiungsschlag einer Frau, die die Dinge vom Ende her denkt und weit weniger emotional als die meisten ihrer männlichen Vorgänger ist. Und vielleicht kam bei dieser Entscheidung auch einfach noch die Erkenntnis der eigenen Erschöpfung hinzu. Mit 51 Jahren war sie 2005 bei Amtsantritt jünger als alle ihre Amtsvorgänger. Aber während ihrer Kanzlerschaft folgte eine internationale Krise nach der anderen. Die Flüchtlingskrise 2015 verlangte ihr schließlich die größte Kraft ab.
Streit mit Seehofer größte Schwäche ihrer Amtszeit
Das Zerwürfnis mit dem damaligen CSU-Chef und heutigen Bundesinnenminister Horst Seehofer hat sich tief eingegraben in die Soll-Seite der Kanzlerin. Ihr sonst so sicherer Instinkt, mit Kritikern gesichtswahrend umzugehen, funktionierte nicht. Zu viel war zerstört zwischen beiden. Sie ertrug ihn nicht mehr. Und er sie nicht. Zum Schaden auch für die Regierung und das Land. Es wird eine der großen Schwächen in Merkels Amtszeit bleiben, dass sie ihrer humanitären Geste, hunderttausende Flüchtlinge in Deutschland aufzunehmen, nicht schneller Kontrolle und Ordnung und Integration folgen lassen konnte. Sie weiß, dass sie damit polarisiert und den Aufstieg der AfD befördert hat.
Ohne Frauenrechtlerin zu sein oder sich selbst als Feministin zu begreifen, hat Merkel mit ihrem einmaligen Lebensweg Frauen mehr Respekt verschafft als das den meisten Bürgern vermutlich bewusst ist. Schon die Mädchen im Land wissen heute: Sie können alles werden. Merkel hat es vorgemacht. Männer haben die Macht schon lange nicht mehr gepachtet und die Art, mit der die Chauvinisten unter ihnen glauben, weiterhin nach oben kommen und dort bleiben zu können, beginnt gerade, sich zu überleben.
Fragestunde der Kanzlerin 2017 eingeführt
Im Laufe der Jahre hat Merkel eine besondere „Sprache“ kultiviert: ihre Mimik. Als US-Präsident Donald Trump beim G7-Gipfel in Biarritz im August seine Nähe zu Deutschland mit „I have German in my blood“ beschrieb, unterdrückte sie amüsiert ein Losprusten. Als er auch noch einen „baldigen“ Besuch in Berlin ankündigte, zog sie die Augenbrauen hoch, als würde sie sagen: „Bloß nicht.“
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Viel bringt Merkel nicht mehr aus der Fassung. 2017 wurde eingeführt, dass sie drei Mal im Jahr für eine Stunde im Bundestag befragt wird. Theoretisch heikel. Aber Merkel spult das ab. Am Mittwoch sagt sie zu den US-Sanktionen gegen Unternehmen, die sich an der Ostsee-Gas-Pipeline Nord Stream 2 beteiligen, dass sie diese Praxis nicht billige. Oder sie betont, sie „fürchte“, dass die umstrittene Bonpflicht nicht abgeschafft wird, weil der Staat damit Steuervergehen verhindern wolle. Oder sie stützt trotz der riesigen Maut-Panne ihren Verkehrsminister und erklärt: „Ich finde, dass Andy Scheuer eine sehr gute Arbeit macht.“ Aus der Linksfraktion erschallt: „Gut gelogen!“
Die EU-Ratspräsidentschaft mit dem Plan, die Wirtschaftsbeziehungen zu China zu stärken, würde Merkel im zweiten Halbjahr 2020 noch gern übernehmen, aber sie ist auch für ein vorzeitiges Aus der Regierung gewappnet. Die letzte große persönliche Herausforderung für die 65-Jährige dürfte ihre eigene Gesundheit sein. Im Sommer fing ein Zittern ihres Körpers bei Auftritten an, die ihr langes regungsloses Stehen abverlangen. Seither lässt sie sich eben einen Stuhl hinstellen. International sorgt das für Irritationen. Die starke Merkel plötzlich schwach? Wie hatte sie gesagt? Als Politikerin muss sie einstecken können. Den Rest nimmt sie zur Kenntnis. Und regiert einfach zu Ende.