Köln – Der Zuspruch kommt von ungewohnter Seite: Für den vielfach beschriebenen „Woelki-Effekt“, also Unzufriedenheit mit dem Kölner Kardinal als Auslöser der Welle von Kirchenaustritten im Jahr 2021, für so einen Effekt also ließen sich „keine Daten finden“. Das schreibt kein Geringerer als Carsten Frerk, der Leiter der „Forschungsgruppe Weltanschauungen in Deutschland“. Die wiederum gehört zur religionskritischen und den großen Kirchen abholden Giordano-Bruno-Stiftung. Das Erzbistum Köln hat die Angaben auch im internen Portal seines Generalvikariats verbreitet.
Frerk hat sich die von der Deutschen Bischofskonferenz veröffentlichten Zahlen über die Kirchenaustritte im Jahr 2021 näher angesehen. Ja, in absoluten Zahlen gab es damals nirgendwo so viele Kirchenaustritte wie in der Diözese des Rainer Maria Kardinal Woelki: 40772 Katholiken verließen hier ihre Kirche. Nur darf man dabei nicht vergessen, dass Köln mit Abstand das größte deutsche Bistum ist. 1,87 Millionen Menschen gehörten hier zu Jahresbeginn 2020 der katholischen Kirche an – deutlich mehr als etwa im Erzbistum München und Freising mit 1,61 Millionen.
Austrittzahl 2021 über Schnitt
Und wie bei jeder Statistik gilt: Um Veränderungen vergleichbar zu machen, muss man sie in Bezug zur Basis, also hier zur Mitgliederzahl des jeweiligen Bistums, setzen. Dann aber kommt heraus: Köln hat 2021 zwar einen überdurchschnittlich hohen Anteil von Austritten zu verzeichnen gehabt, nämlich 2,18 Prozent der Kirchenmitglieder. Im Schnitt aller 27 deutschen Bistümer waren es 1,62 Prozent (und bei der Evangelischen Kirche in Deutschland 1,4 Prozent). Prozentuale Spitzenreiter bei den Austritten sind aber die Diaspora-Erzbistümer Berlin und Hamburg, Köln rangiert knapp hinter München auf Platz 4 (siehe Tabelle).
Frerk hat sich allerdings auch die Mühe gemacht, die 2021er-Zahlen mit denen zu vergleichen, die sich ein Jahrzehnt zuvor ergeben hatten. Auch 2011 standen Berlin, Hamburg und München auf den ersten drei Plätzen – Köln allerdings, damals noch unter Joachim Kardinal Meisner, lag nur auf dem zehnten Rang.
Einen anderen Vergleich hat Frerk nicht gezogen, er ist aber zur Interpretation der jüngsten Zahlen wichtig: In keinem anderen Bistum sind die Austrittszahlen in jüngster Zeit dermaßen stark gestiegen wie in Köln. Lässt man das Corona-Ausnahmejahr 2020 vorerst außer Betracht und vergleicht die jüngsten Zahlen mit denen von 2019, ergibt sich in Köln eine Steigerung um um 67,8 Prozent. Kein anderes Bistum hat auch nur einen annähernd so hohen Wert zu verzeichnen. Der Bundesdurchschnitt lag bei 31,7 Prozent.
Corona-Delle im Jahr 2020
Ein Vergleich mit 2020 ist wenig sinnvoll, denn in diesem Jahr waren die deutschen Amtsgerichte wegen der Corona-Pandemie nur eingeschränkt für den Publikumsverkehr erreichbar. Überall, im Erzbistum Köln wie bundesweit in beiden großen Kirchen, waren die Austrittszahlen 2020 daher gegenüber 2019 rückläufig, in Köln sogar besonders stark. Konkret: Im Vor-Corona-Jahr 2019 hatte Köln 24298 Austritte zu verzeichnen gehabt, 2020 waren es nur noch 17281. Nur: Allein aufgrund des Nachholeffekts, der sich daraus ergibt, hätten es in Köln gut 33000 Austritte sein dürfen, aber nicht über 40000.
Man kann versuchen, den Nachholeffekt herauszurechnen, indem die Jahre 2020 (mit der Corona-Delle) und 2021 (mit wieder allgemein offenen Gerichten und nachgeholten Kirchenaustritten) zusammen betrachtet und mit dem „normalen“ Jahr 2019 vergleicht. Dann ergibt sich folgendes Bild: Bundesweit lag die Zahl der Austritte aus der katholischen Kirche in Deutschland im Durchschnitt der Jahre 2020 und 2021 um 6,4 Prozent über der Zahl des Jahres 2019. In Köln allerdings betrug die Abweichung 19,5 Prozent, während sie in München mit 6,8 Prozent im bundesweiten Rahmen lag. In Berlin (minus 10,4 Prozent) und in Hamburg (minus 5 Prozent) war die Zahl der Austritte in diesem mehrjährigen Vergleich sogar rückläufig.
Kritik aus Sachsen
Der Dresdner Bischof Heinrich Timmerevers hat den Umgang des Erzbistums Köln mit Missbrauchsvorwürfen gegen den 2019 gestorbenen früheren Chef der Sternsinger kritisiert. „Der Fall zeigt leider erneut, dass beim Thema Transparenz und Kommunikation – insbesondere bei Fällen sexuellen Missbrauchs – weiterhin dringender Verbesserungsbedarf besteht“, sagte er der „Bild“.
Das Bistum hatte nach eigenen Angaben erst im Juni 2022 von den Vorwürfen gegen den Priester erfahren – obwohl er von 2010 an seinen Wohnsitz in Ostsachsen hatte. In Gemeinden, in denen der Priester tätig war, „hätte beispielsweise vom Pfarrer auf das Umgangsverbot besonders geachtet werden können“, sagte ein Bistumssprecher der „Bild“. Das sei jedoch unterblieben. (dpa)
Fulda nur knapp hinter Köln
Die Zahl der Kirchenaustritte im Schnitt 2020/21 ist gegenüber 2019 in Köln stärker gestiegen als in irgendeinem anderen katholischen Bistum in Deutschland. Das könnte doch für einen „Woelki-Effekt“ sprechen. Allerdings: Im braven Fulda lag der so gemessene Anstieg mit 17,9 Prozent nur knapp unter dem Kölner Ergebnis, in Passau mit dem konservativen Charismatiker Stefan Oster an der Spitze waren es 13,5 Prozent, allerdings in beiden Bistümern auf viel niedrigerem Niveau. Auch in Freiburg, Mainz und Würzburg gab es im Durchschnitt der Jahre 2020/21 zweistellige Abweichungen zu 2019, ohne dass hier derart scharfe Kontroversen um die Oberhirten bekannt wären wie in Köln. Und in Hamburg mit dem durch die Kölner Vorgänge schwer belasteten Erzbischof Stefan Heße war der Trend ja sogar rückläufig.