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Zu seinem 95. GeburtstagIm neusten Buch verrät Martin Walser seine Träume

Lesezeit 4 Minuten
Martin Walser

Der Schriftsteller Martin Walser 

Köln – Im Netflix-Hit „Inventing Anna“ versucht der Lover der Hauptfigur, Investoren für seine Traum-App zu finden. Ein Gimmick, den niemand braucht. Schon gar nicht Martin Walser, wie sein neues Werk „Das Traumbuch“ zeigt: Der Autor, der am 24. März seinen 95. Geburtstag feiert, schickt darin seiner Leserschaft „Postkarten aus dem Schlaf“: Kurze, zwei, drei, vier Sätze lange Texte – mal fragmentarisch, mal poetisch, mal unmissverständlich, wie Träume nun mal eben sind. Die Vignetten stammen aus 25 Jahren, zusammengestellt wurden sie von Verleger Alexander Fest, wohl seine Abschiedsarbeit vor dem Wechsel von Rowohlt zu dtv Anfang 2022.

„Meine Träume müssen nicht gedeutet oder gar nach den billigsten Schlüsseln übersetzt werden, sie sind mit lieb und wert, so wie sie vorkommen. Sie sind mir deutlich genug“, macht Walser an einer Stelle klar, wobei man sich nicht sicher sein kann, ob er diese Einschätzung nicht doch nur geträumt hat.

Episoden und Eskapaden

Walser berichtet in lakonischem Ton von Episoden und Eskapaden, die uns allen während der Schlafenszeit widerfahren: Man kommt zu spät, man kommt nicht durch, man soll eine Rede halten und hat den falschen oder gar keinen Text dabei. Der aktuelle Wohnort oder der der Kindheit vermischen sich mit anderen Städten. Es ist ein buntes Gewirr aus Stätten und Menschen, damals und heute.

Erfolge und Kontroversen

Knapp 50 Kilometer entlang des Ufers des Bodensees liegen zwischen Martin Walsers Wohnort Überlingen und Wasserburg, wo er am 24. März 1927 zur Welt kam.

Sein erster Roman, „Ehen in Philippsburg“, erschien 1957 und war ein großer Erfolg. In den folgenden Jahrzehnten veröffentliche er eine Vielzahl von Büchern, nahm aber auch immer am politischen Leben der Bundesrepublik teil. Allerdings gab es auch eine Reihe von Kontroversen. So wurde sein Roman „Tod eines Kritikers“ (2002) als eine mit antisemitischen Tendenzen versehene Abrechnung mit Literaturkritiker Marcel Reich-Ranickis betrachtet. (HLL)

Aber wenn man Martin Walser ist, kann das Traumerzählen auch schnell zum Namedropping geraten: Da tauchen Thomas Mann und sein Sohn auf, den er als „Schwätzer“ bezeichnet (Walser lässt offen, welcher) – oder auch Jürgen Habermas, Bertolt Brecht, Max Frisch und Uwe Johnson. Mit Hans Magnus Enzensberger geht es um „den Selbstkostenpreis Gottes“. Marcel Reich-Ranicki und Michel Friedman liefern sich mit Walser ein Stöckchen-Scharmützel. Und Tennisstar Pete Sampras besucht ihn in Wasserburg am Bodensee.

Auch Adolf Hitler erscheint in seinen Träumen

Aber es geht auch bizarr, wenn er von einem singenden („eine Art Bariton“) und gleichzeitig Fußball spielenden Adolf Hitler heimgesucht wird. Nicht zu vergessen Rudolf Augstein, der „rechtliche Vater“ des Publizisten Jakob Augstein, dessen leiblicher Vater Martin Walser ist. Doch auch Walsers Töchter tauchen in den nächtlichen Geschichten auf, genauso wie auch Schwiegersohn und Schauspieler Edgar Selge.

Und immer wieder dreht es sich – wen nimmt es bei Walser Wunder – um Sex. Da finden sich junge Frauen in seinem Bett, auf manch Explizites hätte man gerne verzichtet. Aber nicht auf diesen großartigen Satz über die Frau, mit der er sei mehr 70 Jahren verheiratet ist: „Wenn ich einen Mädchen-Traum habe, träumt Käthe, dass sie mit einem Messer eine Frau erstochen hat.“ Ein schöner Gedanke, dass Ehepaare irgendwann parallel träumen.

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Wenn man so viel Sex präsentiert bekommt, bleibt nicht anderes übrig, als manches fabelhafte Wesen in den Werken von Cornelia Schleime, die das Buch illustrieren, als männliches Geschlechtsteil zu sehen. Schleime hat historische Postkarten mit Bodensee-Idyllen übermalt, verfremdet und somit eigene Traumbilder geschaffen.

Alte und altmodische Postkarten dienen Cornelia Schleime als Ausgangspunkt für ihre Illustrationen.

Hat das nun herausragende literarische Qualität oder ist es als mehr oder minder charmante Fingerübung eines alten Meisters zu betrachten? So oder so könnten die Texte Verwendung finden, falls sich Netflix dazu entschließen sollte, die Literaten-Soap „Die Walsers“ in Auftrag zu geben. Stoff böten die allesamt im Kulturbetrieb tätigen Familienmitglieder und die über die Jahrzehnte geknüpften beruflichen Netzwerke und oftmals harschen Verwerfungen genug. Und Heinrich Breloer hat vielleicht noch Kapazitäten frei.

Martin Walser. Das Traumbuch. Postkarten aus dem Schlaf. Gemälde und Zeichnungen: Cornelia Schleime. Rowohlt, 144 S., 24 Euro.