Lit.Cologne mit Andreas PflügerDämonen in den Trümmern des Zweiten Weltkriegs
Köln – Stramme Nazis sind sie alle, doch die einen hängt man, die anderen werden hofiert. Ribbentrop, Keitel, Kaltenbrunner und neun weitere Delinquenten warten 1946 auf die Vollstreckung ihrer Nürnberger Todesurteile. Den Ostfront-erfahrenen Oberstleutnant Hermann Baun hingegen fassen die amerikanischen Sieger mit Samthandschuhen an. Ebenso wie Reinhard Gehlen, der für Hitler die Rote Armee ausspioniert hatte.Grund der Sonderbehandlung: Diese Männer sollen für den bevorstehenden Kalten Krieg gegen Stalins Sowjetunion rekrutiert werden. Moral entpuppt sich als erschreckend weiche Währung im zerstörten Deutschland.
Ein Spezialist für großartige Spannung
Paula Bloom, fiktive Titelheldin in Andreas Pflügers überwiegend faktenbasiertem Nachkriegsroman „Ritchie Girl“, ist gewissermaßen in solche ethischen Grauzonen hineingeboren worden. Die amerikanische Soldatin hat erlebt, wie virtuos und kaltschnäuzig ihr deutscher Vater Geschäfte zwischen US-Konzernen und Schlüsselfirmen des Dritten Reichs knüpfte, sie kannte den späteren CIA-Chef Allen Dulles, der sich zynisch an Rothschilds Motto hielt: „Geld wird gemacht, wenn Blut über die Straße läuft.“
Der 1957 in Thüringen geborene Autor hat sich schon mit seiner Trilogie um die blinde Elite-Polizistin Jenny Aaron als herausragender Spannungsspezialist profiliert. Nun schildert er wieder eine starke Frau, ausgebildet in Camp Ritchie, Maryland, und wegen ihrer Fremdsprachenkenntnisse vom Militärgeheimdienst CIC (Counter Intelligence Corps) angefordert.
Fakten und Fiktion
Der Autor erläutert im Nachwort, dass er Erfundenes (etwa die Heldin) und Tatsachen gemischt hat. Die geheimen Kapitulationsverhandlungen zwischen Allen Dulles und SS-General Karl Wolff sowie Walther Rauff gab es aber durchaus („Operation Sunrise“), ebenso wie enge Verflechtungen zwischen Standard Oil und jener IG Farben, deren Tochterfirma Zyklon B produzierte. Und Reinhard Gehlen baute mit US-Duldung einen Auslandsgeheimdienst auf und wurde später erster Chef des BND. (Wi.)
Gewissermaßen als Talentprobe konnte Paula in den letzten Kriegstagen den berüchtigten Hitler-Schergen Walther Rauff zur Kapitulation überreden – jenen Mann, der maßgeblich den Einsatz von Gaswagen zur Judenvernichtung geleitet hatte. „In seiner Nähe war es, als atmete man Eissplitter.“
Jetzt ist sie im zertrümmerten Feindesland mit einer heiklen Mission betraut: Sie soll in Verhören herausfinden, ob der jüdische Filou Johann Kupfer wirklich der beste Ost-Spion der deutschen Abwehr oder womöglich ein russischer Doppelagent war. Seine Geliebte Dora sagt über ihn: „Er könnte dem Besitzer eines Gestüts das Trojanische Pferd als Zuchthengst verkaufen.“
Von Dämonen durch die Trümmer gehetzt
Man weiß kaum, was man an diesem Roman am meisten bewundern soll: das atmosphäresatte Panorama des gefallenen „Tausendjährigen Reichs“, die Kaltnadelradierungen der Nazi-Bonzen, das Röntgenbild der deutschen Schuld – oder doch das ausdrucksstarke Porträt von Paula Bloom?
Diese Frau wird von ihren inneren Dämonen durch die Trümmerberge gehetzt. Da gibt es den gewaltsamen Tod ihres Vaters, den Verrat an der jüdischen Freundin Judith und nicht zuletzt die Trennung vom Geliebten Georg, dessen Schicksal und dessen Haltung gegenüber den braunen Herrenmenschen bis kurz vor Schluss unklar bleiben.
Der in Berlin lebende Autor mischt leichthändig Fiktion und Tatsachen (siehe Kasten) und verwickelt Prominente von Klaus Mann über Stefan Heym bis zu Otto Dix ganz selbstverständlich in die Handlung. Und er macht Paula und ihren Beschützer Sam Yaeger sogar zu Nürnberger Augenzeugen von Görings Zyankali-Selbstmord und drei der zwölf Hinrichtungen zu machen.
Das könnte Sie auch interessieren:
Zwar teilt Pflüger Paulas Empörung darüber, dass 1946 fast alle Deutschen so von „Befreiung“ sprechen, als ob Hitler als ausländischer Besatzer über sie hergefallen wäre. Zugleich werden aber auch jene GIs entlarvt, die sich in Macho-Pose ihrer leichten Siege bei den „Fräuleins“ brüsten.
So beweist dieses moralisch rigorose, packend, bildstark und elegant geschriebene Buch, dass das dunkelste Kapitel deutscher Geschichte keineswegs auserzählt ist.
Andreas Pflüger: Ritchie Girl. Roman, Suhrkamp, 463 S., 24 Euro.lit.Cologne-Lesung: 21. März, 21 Uhr, Kulturkirche, Siebachstraße 85.