Köln – Trauer und Hilflosigkeit erlebte die Fotografin Bettina Flitner (60) nach dem Suizid ihrer Schwester. Im Schreiben darüber konnte sie sich vom Schmerz über diesen Tod befreien. Mit Brigitte Schmitz-Kunkel sprach Bettina Flitner über ihr Buch „Meine Schwester“.
Ihre ältere Schwester Susanne hat sich 2017 umgebracht. Was hat Sie bewogen, Ihre gemeinsame Geschichte aufzuschreiben?
Ich habe für mich selber völlig unvermittelt in der allerersten Corona-Woche 2020 damit begonnen. Es war einfach der richtige Moment. Ich habe mit der Todesnachricht angefangen, Dann bin ich zeitlich zurückgesprungen. Und dann habe ich immer weiter geschrieben.
Sie gehen mit Erinnerungen, Anekdoten, Erlebnissen zurück in Ihre Kindheit und Jugend in den 70er und 80er Jahren. Eine Recherche in eigener Sache?
Der Tod ist eigentlich nur der Ausgangspunkt. Ich habe in Tagebücher geschaut, in Aktenordner meines Vaters, der alles abgeheftet hat. Je mehr ich mich darauf konzentriert habe, desto mehr Details fielen mir wieder ein. Zwischendurch habe ich immer mal gedacht, das muss ich meine Schwester fragen, sie hatte ein viel besseres Gedächtnis als ich. Ach nein, geht ja nicht.
Wann haben Sie an ein Buch gedacht?
Ich hatte zuerst gar nicht im Kopf, das zu veröffentlichen, aber Helge Malchow von Kiepenheuer& Witsch interessierte sich in einem Gespräch für meine Geschichte. Ich hatte vorher nicht so viel darüber gesprochen. Es war das zweite Mal, dass mir das passiert ist – auch meine Mutter hat sich mit 47 Jahren umgebracht. Viele Jahre hing über mir das Gefühl, alles kann jederzeit passieren.
Beim Schreiben habe ich gemerkt, dass es in mir immer leichter wurde, sich etwas verändert hat. Das war schön. Und es wäre eine große Freude, wenn das auch bei anderen Menschen ankommt, ihnen vielleicht hilft, solche Erlebnisse zu verarbeiten. Zu sehen, dass man trotz schmerzhafter Einschläge gut und glücklich weiterleben kann.
In Ihrer Familie waren Depressionen verbreitet und wurden auch nicht verschwiegen.Bei jedem Familientreff war das Thema. Für mich war es normal, dass Menschen irgendwann Depressionen haben können. Ich selber kenne es nicht, Gott sei dank. Sie öffnen sich hier radikal. Woher nehmen Sie den Mut?
Ich habe mich immer über andere Leute und deren Geschichten gebeugt, immer zu Themen gearbeitet, über die man angeblich nicht reden darf. Männer, die ins Bordell gehen, Männer, die ihre Frauen schlagen etc. Jetzt war der Moment, mal an meine eigene Geschichte zu gehen. Es gibt Suizid, und es ist ein Tabu, aber ja, lass uns drüber reden. Und ich merke es an den Reaktionen: Fast jeder hat eine Freundin, einen Verwandten, der sich umgebracht hat. Es ist ein riesiger weißer Elefant im Raum.
Mit Ihrem Buch taucht man auch ein in den westdeutschen Kinderalltag, „Aktenzeichen XY“ und „Ahoi-Brause“, Waldorf-Pädagogik und Quatsch mit den Cousinen. Es gibt einiges zu lachen.
Meine Schwester war sehr witzig. Wir haben auch noch als Erwachsene irrwitzige Lachanfälle gekriegt, sie hatte enormen Sinn für Situationskomik. Die Lebensfreude und die Depression – das hat nebeneinander gestanden, und das kommt beides in meinem Buch vor.
In Zeiten sexueller Libertinage führten Ihre Eltern eine offene Beziehung, die Sie als Kinder überforderte. Sie selbst leben seit langem mit Ihrer Lebensgefährtin zusammen, wie haben Sie das bei den Vorbildern geschafft?
Ja, wahrscheinlich deswegen (lacht)! Es ist natürlich Glück, und das dauert schon seit über 30 Jahren. Ich beschreibe im Buch, wie ich als junge Frau merkte, dass meine Schwester und ich anfingen, Beziehungen so zu leben wie unsere Eltern – und wie ich beschloss, dass ich diese Wiederholung nicht will. Das ist auch eine Entscheidungssache.
Damals trennten sich Ihre Wege. In dieser Zeit entstand das berührende Doppelporträt im Spiegel vom Umschlag Ihres Buchs.
Im Moment, in dem ich das Foto gemacht habe, wussten wir beide, dass sich nun unsere Wege trennen. Das war ein ganz grundsätzliches Gefühl – deshalb hat das Bild wahrscheinlich auch diese Ausstrahlung. Das Foto ist ein Konzentrat des Buchs und unseres Lebens.
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Sie erzählen von einem Puppenköfferchen mit Erinnerungsstücken, das Ihre Schwester Ihnen kurz vor ihrem Suizid mitgebracht hat.
Das war vier Monate vor ihrem Tod, wie eine Art Vermächtnis: Hier ist unser Leben von Anfang an, meine Erinnerung, ich gebe sie dir. Das ist irgendwie tröstlich, denn offenbar hatte sie es da schon geplant.
Beim Gehen sagte sie zu Ihnen: „Damit Du Dich erinnerst“. Damit endet Ihr Buch.
Ja, und ich habe mich erinnert. Ich habe sie wieder lebendig habe werden lassen. Unser ganzes gemeinsames Leben davor ist ja mit einem Schlag weg gewesen, es zählte nur noch der Tod. Mit dem Schreiben ist das Leben wiedergekommen.
Bettina Flitner: „Meine Schwester“, Kiepenheuer & Witsch, 320 S., 22 Euro. Lesung im Rahmen der lit.Cologne am 22.3. in der Kulturkirche.