Auch Corona-Pandemie fließt einKarin Slaughter schickt Schwestern auf Höllenfahrt
Atlanta – Es braucht keine zehn Seiten, und wir sind in Callies Hölle angekommen. Sommer 1998. Die 14-jährige Babysitterin hat den hyperaktiven Knirps Trevor gerade mit knapper Not schlafen geschickt, da zerrt sie sein vierschrötiger Vater Buddy schon aufs Sofa. „Wenn Trevor eine gespannte Feder war, dann war Buddy ein Vorschlaghammer.“
Vergangenheit holt Geschwister ein
Also wieder einmal brutaler, roher Sex, den das Mädchen nur anfangs mit Liebe verwechselt hatte. Wobei es nicht weiß, dass Buddy alles zum Amüsement seiner Freunde mit versteckter Kamera filmt. Doch diesmal eskaliert der Missbrauch nebenan in der Küche, bis Callie nach einem Messer greift und eine Arterie ihres Peinigers aufschlitzt. Ihre alarmierte Schwester Leigh bringt die blutige Sache zu Ende, und gemeinsam schafft man die Leiche fort.
Karin Slaughters neuer Kriminalroman „Die falsche Zeugin“ macht schon zu Beginn keine Gefangenen und dreht den Spannungsschraubstock danach unerbittlich zu. 23 Jahre später scheinen die Schwestern mit ihrer Tat davongekommen zu sein, freilich auf höchst unterschiedliche Weise. Callie mixt als spindeldürrer Junkie Heroin mit Oxycodon, während es Leigh als Top-Anwältin einer führenden Kanzlei in Atlanta auf die andere Seite der Gleise geschafft hat.
Dann der Schock: Als der neureiche Schnösel und mutmaßliche Vergewaltiger Andrew Tenant ausgerechnet Leigh als seine Verteidigerin verlangt, schlägt die verdrängte Vergangenheit zurück: Andrew ist in Wahrheit Trevor und hat offenbar Buddys Verbrechergene geerbt.
Karin Slaughter beschreibt drastisch menschliche Abgründe
Wie ihre im letzten Jahr gestorbene britische Kollegin Mo Hayder zählt die Amerikanerin Karin Slaughter zu den hartgesottenen Krimiautorinnen. Allerdings bedeutet mangelnde Zimperlichkeit hier keineswegs, dass es ihr um Gewaltpornografie ginge. Nein, die 51-Jährige beschreibt nur beängstigend drastisch, was Menschen einander antun können.
Das begann schon mit der Kindheit von Leigh und Callie als Töchter einer lieblosen Proletenmutter. Dann das gefährliche Babysitten, wobei Leigh ihrer jüngeren Schwester einen fatalen Sündenfall verschweigt: Auch bei ihr hatte Buddy damals schon seine dreckigen Hände unter dem Rock gehabt. Sie konnte ihn barsch stoppen, warnte Callie jedoch nicht. Kein Wunder, dass sie sich nun deren Absturz vorwirft.
Corona-Krimi
Die aktuellen Passagen des Buches spielen in jener Corona-Zeit, die in den USA besonders viele Opfer kostete. Die Autorin bezieht die Schrecken der Pandemie bewusst in ihren Roman ein. Im Nachwort schreibt Karin Slaughter: „So schrecklich diese letzten 18 Monate waren, bildet die daraus entstandene Krise doch ein Fundament für die Art von sozialbewusstem Erzählen, die meine Arbeit inzwischen prägt.“ (Wi.)
Hervorragende Krimis sollten immer mehr bieten als Mordermittlungen, Prozesse oder Rachedramen. Karin Slaughter leuchtet ebenso subtil wie schonungslos die Abgründe von Familien aus. Callies Unterlegenheitsgefühl lässt sie die Nähe der erfolgreichen Leigh meiden, deren Hilfe sie doch so dringend braucht. Umgekehrt verbirgt sich hinter der Fassade der brillanten Strafverteidigerin eine von Schuldgefühlen zerrüttete Frau. Die hat nicht nur ihre Ehe mit Walter zerstört, sondern strapaziert auch das emotionale Band zu Tochter Maddy bis zum Zerreißen.
Auf diese inneren Sollbruchstellen übt der brillant konstruierte Thriller-Plot einen immer stärkeren, fast unerträglichen Druck aus. Trevors Unberechenbarkeit bricht sich mit teuflischer Eskalationsfinesse Bahn, seine Gegnerinnen scheinen im Herzschlagfinale auf verlorenem Posten zu stehen.
So stimmt in diesem ebenso komplexen wie knallharten Roman alles: atmosphärisch dichte Milieus von der Gosse bis ins Chefbüro, ausgeklügelte Dramaturgie – und vielschichtig gebrochene Heldinnen, um die man bis zum Schluss bangen muss.
Karin Slaughter: Die falsche Zeugin. Thriller, aus dem amerikanischen Englisch von Fred Kinzel. Harper Collins, 590 S., 24 Euro.