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Der „Neue“ ist daZukünftiger GMD Andrés Orozco-Estrada begeistert in der Kölner Philharmonie

Lesezeit 4 Minuten
Andrés Orozco-Estrada leitet das Gürzenich Orchester Köln bei der Aufführung des Programms "Wetterleuchten" mit Werken von Unsuk Chin "Operascope" für Orchester 
am 04. April 2024
in der Kölner Philharmonie

Andrés Orozco-Estrada leitet bald das Gürzenich Orchester Köln

Andrés Orozco-Estrada dirigierte traumwandlerisch das Gürzenich-Orchester Köln, dessen Chef er ab 2025 ist. Der zukünftige Generalmusikdirektor wurde vom Publikum euphorisch empfangen.

Es wurde am Donnerstag in der Philharmonie eindeutig mehr getuschelt als sonst – in der Pause, aber auch auf dem Weg durch die Sitzreihen. Das Bedürfnis des Publikums, sich auszutauschen, lag greifbar in der Luft: Der „Neue“ war da. Andrés Orozco-Estrada, der im kommenden Jahr den Stab von François-Xavier Roth als Chefdirigent des Gürzenich-Orchesters und als Generalmusikdirektor der Stadt übernimmt, gab schon einmal eine Kostprobe seines Könnens.

Zwar ist er nicht das erste Mal in der Philharmonie zu Gast gewesen, aber das erste Mal, nachdem er vor einem Jahr für das Amt den Vertrag unterschrieb. Gelenkig wie ein Yogameister „Der hat musikalisch was drauf“, sagte ein Besucher. Zwei Sitzreihen weiter erklärte eine Zuhörerin: „Das ist eine wilde Mischung, aber mega.“

Orozco-Estrada als Publikumsliebling

Tatsächlich war das Programm unter dem Titel „Wetterleuchten“ kein Pomp mit Meilensteinen der Orchesterliteratur, kein Paraderitt durch eine neue Aufführungspraxis. Vielmehr klang es gleichsam bodenständig und entdeckungsreich. Der Maestro produziert sich nicht selbst, faucht nicht mit wildem Furor. Vielmehr ist er getrieben von der reinen Freude an der Musik. Dabei fordert er vom Orchester eine bedingungslose Präsenz ein, indem er gelenkig wie ein Yogameister selbst alles gibt, was die Musik in ihm entfacht.

Sein leidenschaftliches Temperament ist unüberseh- und hörbar, schon als Kind rupfte er Radioantennen heraus und funktionierte sie kurzerhand zum Taktstock um. Einer seiner Professoren sagte später einmal, man habe ihn wie ein verrücktes Pferd zurückhalten müssen. Und er selbst äußerte in einem Interview: „Ich dirigiere um mein Leben“. Gleichzeitig, und das scheint bei ihm kein Widerspruch zu sein, ist er im Dirigat ungemein diszipliniert, präzise und prägnant.

Bei der koreanischen Komponistin Unsuk Chin klangt das im Stück „Operascope für Orchester“ sehr klar, auch wenn es Parts in dem achtminütigen Werk gibt, die wie ein Murmeln durch alle Register gehen. Chin erläuterte einmal, die Oper habe als „Kraftwerk der Gefühle“ Pate gestanden. Versteckt gibt es Verweise auf Giuseppe Verdi und Giacomo Puccini. Abrupte Stimmungswechsel machen das Stück spannend und facettenreich. Die Tonfarben mischen sich zum mitreißenden, frischen Klangbild.

Eindeutiger Publikumsliebling – neben dem Dirigenten – war François Leleux als Solist in Bohuslav Martinůs neoklassizistischem Konzert für Oboe und kleines Orchester von 1955. Die Harmonien schwanken, dass es in einen Taumel versetzt, über dem der wehmütige Gesang der Oboe liegt. Orozco-Estrada begleitete den befreundeten Solisten in einer traumwandlerischen Sicherheit mit dem Orchester, das zumal im Mittelsatz im Cello eine sanglich facettenreiche Bandbreite entwickelte, die Martinůs polyglotte Lebensgeschichte von der böhmischen Heimat bis zu Stationen in Frankreich, Italien, den USA und zuletzt der Schweiz erzählt.

Mit Felix Mendelssohn Bartholdys dritter Sinfonie, der Schottischen, kam dann nach der Pause ein weiterer, virtuoser Landschaftsmaler der Musik zu Gehör, den Orozco-Estrada unspektakulär, aber mit überraschender Intensität vermittelte. Immer wieder legte er den Zeigefinger an die Lippen, rief ein Piano hervor, das Strukturen in Mendelssohns Komposition im Flüsterton offenlegte, die viele Zuhörer so womöglich noch nicht kannten.

Das Forte wiederum geriet nicht aufdringlich. Der Maestro versteht es, eine Geschichte so vorzutragen, dass die Pointen am besten zum Tragen kommen. Es ist ein pulsierendes, atmendes Zusammenspiel des Orchesters. Und hätte man alle Schritte, die Andrés Orozco-Estrada an dem Abend auf dem roten Teppich seines knapp einen Quadratmeter großen Dirigentenpults machte, aufgezeichnet, es wäre ein ganzes Handbuch für eine unverwechselbare Choreografie herausgekommen.

Er bewegt sich elastisch-tänzerisch, was wiederum einen Klang hervorruft, der „zum in die Knie gehen“ verleitet. Im Orchester herrscht höchste Aufmerksamkeit, gute Laune und ein Engagement für die Sache, das funktioniert, wenn man sich aufeinander einlässt.

Als großen Paukenschlag hatte Orozco-Estrada den Abend vor wenigen Wochen im Rundschau-Interview auch nicht angekündigt, vielmehr als einen weiteren Schritt, sich kennenzulernen. Jetzt geschah das vor Publikum, und das verabschiedete ihn nach zwei Stunden frenetisch.


Zur Person

In Medellín, Kolumbien, wurde Andrés Orozco-Estrada 1977 geboren und erhielt als Kind Geigenunterricht. Er erhielt im Alter von 15 Jahren ersten Dirigierunterricht. Nach einem Studium in Bogotá wurde er 1997 an der Hochschule für Musik und darstellende Kunst Wien in die Dirigierklasse von Uroš Lajovic aufgenommen und schloss 2003 sein Studium mit einem Dirigat des Radio-Symphonieorchesters Wien im Wiener Musikverein „mit Auszeichnung“ ab. Es folgten Engagements und Gastauftritte bei internationalen Ensembles (EB)