Eine Frau für den DomEin Porträt der Domküsterin Judith Maurer
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Köln – Wenn Judith Maurer die Frühschicht hat, ist sie oft um 5.50 Uhr die Erste im Dom. Was sie genießt, weil sie diese besondere Stille und das Alleinsein am Morgen liebt. Wie auch die Unberührtheit, die die gotische Kathedrale in aller Herrgottsfrühe noch ausstrahlt. „Bevor es hier dann etwa um acht wie im Taubenschlag zugeht“, beschreibt sie gut gelaunt das Kommen und Gehen der Domkapitulare und Ruhestandsgeistlichen, die am Vierungsaltar oder in einer der Kapellen – da aber dann unter Ausschluss der Öffentlichkeit – Messe feiern wollen. Das sei ein rotierendes System, sagt sie, bei dem gut zu wissen ist, wer sich für welche Zeit eingetragen hat. Der besseren Planbarkeit halber. Denn Überraschungen mit unangemeldeten Besuchern sorgten nur unnötig für Komplikationen. Die erste Frau im Küsterdienst des Dom ist klar strukturiert und hat einen ausgeprägten Ordnungssinn.
Irgendwann steige dann aber inner- und außerhalb der Sakristei merklich der Geräuschpegel, spätestens wenn die Touristen Kölns Wahrzeichen für sich entdecken und die Kathedrale um 9.45 Uhr zur geschäftigen Betriebsamkeit erwacht, berichtet sie. Dann hat die Domküsterin in der Regel schon vier Stunden Dienst hinter sich, viele Wege zurückgelegt und eine Menge Vorkehrungen für sämtliche Frühmessen des Tages getroffen. Und der beginnt immer damit, dass sie zunächst die Schatzkammer entsichert und dann viele kleine Kännchen, golden und silbern funkelnde Patenen und Kelche aus den Schränken holt.
In zweieinhalb Stunden bis zu zwölf Messen
Denn bevor sie dem ersten Priester kurz vor halb sieben beim Anlegen seiner Kasel assistiert, soll bereits alles, was für einen Gottesdienst gebraucht wird, an seinem Platz stehen. Das heißt, auf insgesamt fünf Altären kann parallel Eucharistie gefeiert werden, so dass im Schnitt innerhalb von zweieinhalb Stunden bis zu zwölf Messen im Dom stattfinden. Was für Maurer bedeutet, nicht nur für Messgerät, brennende Kerzen, Evangeliare, Lektionare, Fürbittbücher sowie die eucharistischen Gaben Brot und Wein zu sorgen, sondern auch Schultertücher, Alben, Zingula, Gewänder und Kelchtücher herauszulegen, und das in der für den jeweiligen Tag vorgeschriebenen Farbe.
Doch noch bevor Maurer dieses Kettenwerk eingespielter Routineabläufe in Gang setzt, den einen oder anderen Tresor mit dem persönlichen Kelch eines Domgeistlichen öffnet oder manche Schublade, zum Beispiel mit den kunstvoll gestalteten Stolen für jeden liturgischen Anlass, betritt sie durch eine Seitentür die Sakramentskapelle. „Mit einer Kniebeuge vor dem Tabernakel und einem Moment der Stille beginne ich jeden Morgen und bitte um Segen für den Tag“, erklärt die 44-Jährige. „Der Ort der Gegenwart Gottes ist zweifellos mein Lieblingsort, ein heiliger Ort, an dem ich Gott zu Beginn eines Tages alles hinhalten kann, was mir auf der Seele liegt, und wo es größtmögliche Nähe zu Christus gibt.“ Vom Altar gehe alles aus, er sei das Herzstück, der Thron Gottes, betont die Dom-Mitarbeiterin ehrfurchtsvoll. Und der Dienst des Küsters – beziehungsweise der Küsterin – stehe nun mal in unmittelbarer Beziehung zum Altar.
Schon als Kind vom Altar in den Bann gezogen
Wenn Judith Maurer über ihre Arbeit spricht, dann wird etwas von dem Feuer spürbar, mit dem sie diesen Beruf ausübt. Denn sie brennt für das, was sie tut. Das sei nicht irgendein Job, meint sie, eher eine echte Berufung. „Schon als Kind haben mich Altar und Tabernakel immer in den Bann gezogen. Das Geheimnis, das sich dahinter verbirgt, hat mich fasziniert.“ Die Liturgie auf den Weg bringen – das bedeute ihr viel. Überhaupt die Liturgie – bei jeder Feier könne sie die Vorwegnahme der Ewigkeit spüren. „Diesen Beruf kann man nicht halbherzig ausüben. Gewissenhaftigkeit ist wichtig. Außerdem Leidenschaft“, ist Maurer überzeugt. Und die hat die studierte Sonderpädagogin ohne jeden Zweifel.
Vor sieben Jahren hat sie sich auf eine der drei Küsterstellen am Dom beworben und damit Geschichte geschrieben. Immerhin ist sie die erste Frau in der Domsakristei. Was einer kleinen Sensation gleichkam. Schließlich gilt der Küsterdienst noch immer als Männerdomäne, zumal in großen Kirchen.
„Wir hatten in Köln schon eine Dombaumeisterin, wir haben eine Frau, die die Schatzkammer leitet, und die ersten Domschweizerinnen haben einen richtigen Hype ausgelöst. Warum also nicht auch eine Küsterin an der Hohen Domkirche?“, fragt Maurer. „Als ob eine Frau das nicht auch könnte. Für mich jedenfalls ist das der Beruf meines Lebens“, schwärmt sie. „Und den will ich so ausüben, dass sich andere von Christus genauso berühren lassen, wie ich das erlebe, und sie diesen Dom als einen Ort erfahren, der auf Gott verweist.“
Zwölf Monate dauerte ihre Küsterausbildung: Mit Fächern wie Sakristanen- und Glaubenslehre, Liturgie und Sprecherziehung – denn oft genug schlüpft der Küster in den Werktagsmessen auch in die Rolle des Lektors. „Alles, was es zu lernen gab, habe ich aufgesogen wie ein Schwamm.“ Dabei sei sie geradezu aufgeblüht. „Die Entscheidung für den kirchlichen Dienst hat sich am Ende richtiger angefühlt als die für ein Referendariat. In und für die Kirche zu arbeiten ist einfach mein Weg.“
Ruhe bewahren, selbst bei größter Hektik
Judith Maurer liebt ihre Arbeit und ist gerne für die Domseelsorger ansprechbar, hilft, wo sie kann, und behält die Ruhe, selbst wenn es mal hektischer zugeht und Multitasking gefragt ist. Zum Beispiel an den Hochfesten Weihnachten und Ostern oder in der Chrisam-Messe mit mehreren hundert Priestern gleichzeitig. Als wäre sie gerade dann in ihrem Element, wenn die Herausforderung deutlich zunimmt, verliert sie nie den Überblick, sorgt dafür, dass ein Rädchen ins andere greift. „Der Klerus muss und darf sich auf uns verlassen können“, sagt sie auch im Namen ihrer Kollegen, selbst wenn es schon mal Tage gäbe, bei denen man am Anschlag sei, wie sie einräumt, zumal jeder Feiertag ein Arbeitstag und Urlaubsplanung rund um die großen Kirchenfeste grundsätzlich tabu sei.
Der Tabernakel
Hütte oder Zelt bedeutet das lateinische Wort „Tabernaculum“. Im Tabernakel werden in römisch-katholischen Kirchen die geweihten Hostien aufbewahrt, oder – wie man auch sagt – das Allerheiligste. Denn diese Gabe ist den Gläubigen sehr kostbar. So wie Christus im Allerheiligsten gegenwärtig ist, bleibt er sakramental gegenwärtig, wenn die konsekrierten Hostien im Tabernakel aufbewahrt sind. Als Ort seiner Gegenwart birgt der Tabernakel ihn wie ein Zelt. Das Ewige Licht zeigt diese Gegenwart an.
Ursprünglich war der Tabernakel dazu da, das konsekrierte Brot würdig und sicher für die Kommunion der Kranken und Sterbenden aufzubewahren. Mit der Zeit entwickelte er sich jedoch zunehmend von einem Aufbewahrungsort zu einem Anbetungsort. Bevor die heute bekannte Form des Tabernakels in der Kirche verbreitet war, bewahrte man die Kommunion auch privat auf, oft in Elfenbeinkästchen. Später etablierten sich eigene Nebenräume in der Kirche als Aufbewahrungsorte fürs „Allerheiligste“.
Ab dem Frühmittelalter wurde das Gefäß mit den konsekrierten Hostien auch auf den Altar gestellt oder über dem Altar aufgehängt (sogenannte Hängetabernakel, oft in Form einer Taube). Verbreitet waren auch Wandtabernakel in Wandnischen oder Sakramentshäuschen. Als Folge der Bestimmungen rund um die Realpräsenz der Eucharistie auf dem Konzil von Trient (1545-1563) wurde der Tabernakel auf den Hochaltar in die Zentralachse verlagert und, unterstützt durch die Barock-Architektur, zum zentralen Blickfang in den meisten Kirchenräumen.
Stresserprobt sein und vorausdenken können – das seien nun mal unverzichtbare Bedingungen für diese Aufgabe. „Eine gute Küsterin kennt alle Vorlieben und Abneigungen, auch wenn manche Sonderwünsche den Adrenalinpegel beträchtlich erhöhen“, lacht Maurer. Sie weiß eben, wer von den Domkapitularen das Lesepult auf der Kanzel im vierten Loch, im zweiten, ganz unten oder vollständig weggeklappt bevorzugt. Auf welche Höhe jeweils das Funkmikrofon für die Live-Übertragung vom Domradio eingestellt sein sollte, hat sie ebenfalls auf dem Schirm. Kniffliger wird es da schon, wenn es um die die Garderobenfrage geht. Schließlich sei die Auswahl an Paramenten groß, und über Geschmack lasse sich bekanntlich nicht streiten.
„Zu dick, zu dünn, für mich nicht quergestreift, auf keinen Fall dieses hässliche Grün“ – das alles habe sie schon zu hören bekommen. Auch die „Bassgeige“, dieses schwere Brokatgewand mit kostbarer Stickerei und Ornamentik auf Brust und Rücken sei noch lange nicht jedermanns Sache. „Luxusprobleme“, kommentiert Maurer solche Befindlichkeiten . „Gefühlt 100 000 solcher Details muss man im Kopf haben.“ Trotzdem sei Dünnhäutigkeit fehl am Platze. „Wir Küster sind dafür da, nach Möglichkeit jeden Wunsch zu erfüllen.“