Bei einer Messerstecherei am Wiener Platz ist ein 43-Jähriger gestorben – wie geht es jetzt weiter?
Vergleichbare „Sorgenkinder“, wie der Ebertplatz, wurden nach ähnlichen Vorfällen aufwendig verschönert, die Politik machte Druck
Anwohner und Geschäftsleute fühlen sich vergessen: „Es ist halt das Rechtsrheinische“
Köln – Es sind nur wenige Treppenstufen raus aus der U-Bahnstation und schon steht man mittendrin in diesem Mikrokosmos namens Wiener Platz mit all seinen Eigenheiten – und das sind eben auch Drogenabhängige, die an dieser Stelle eher saufen als trinken, schon mal laut werden. Vor einer Woche ist hier ein 43-jähriger Familienvater in der Nacht auf Sonntag mit etwa 20 Messerstichen niedergestochen worden, ohne Chance zu überleben. Eine Blume auf der Freitreppe erinnert in diesen Tagen an ihn, wenige Meter weiter reißen zwei ältere Frauen sich gerade das nächste Dosenbier auf. Alltag.
Und die Frage stellt sich: War was? Normales Geschäft? Weiter so? Am Ebertplatz etwa ist das 2017 anders gewesen, als ein 22-Jähriger nach einem Drogen-Streit stirbt. Am Ende pumpen Stadt und Stadtrat nach Jahren des Wegschauens viel Geld in den Platz, die Politik macht Druck, die Medien, die Kultur.
Das Rechtsrheinische wird oft vergessen
Zurück bleibt nun diese eine Frage: Warum regt sich diese Stadt nicht auf, wenn etwas Vergleichbares am Wiener Platz passiert? „Hier wohnen eben keine Pädagogen, die dreiseitige Beschwerdebriefe an die Stadt schreiben“, sagt ein Geschäftsmann vor Ort, er kommt seit Jahrzehnten fast jeden Tag. „Es ist halt das Rechtsrheinische.“ Die Botschaft: Uns hat man vergessen, fernab von Dom und Altstadt – obwohl sie Luftlinie nur vier Kilometer entfernt ist.
Doch der Platz ist kein Ort für einfache Antworten, für Klischees. Nur wenige Meter vom Geschäftsbetreiber entfernt sitzt ein Mann, er kommt seit mehr als zwei Jahrzehnten hierhin, sagt: „Es ist alles im Rahmen, ich habe keine Angst.“ Vom Messerangriff vom Wochenende hat er nichts gehört. „Klar saufen die Leute auf dem Platz, aber sie passen auch auf die alten Menschen und Kinder auf.“
Am Neumarkt passiert mehr als am Wiener Platz
Tatsächlich prägen die Trinker vor Ort den U-Bahn-Ein- und Ausgang und die Treppen zur Galerie nördlich des Platzes, sie sind nicht zu übersehen, manchmal auch nicht zu überhören. Aber zumindest nachmittags kommt der Platz nicht als Angstraum daher, eher als etwas verlottert, eine Rolltreppe funktioniert nicht. Das ist nichts Besonderes in Köln, aber ja, der Wiener Platz ist keine Wohlfühloase. Länger als nötig bleibt hier kaum einer, es ist ein Ort der Durchreise.
Aber ist der Platz damit anders als die U-Bahn-Station am Friesenplatz, als der Ebertplatz, als Ecken der Severinstraße?Der Wiener Platz ist bei den Kriminalitätszahlen der Kölner Plätze nicht mal führend, wenn man die Statistik der Polizei zugrunde legt, demnach ist der Neumarkt fast zweieinhalb mal so schlimm (siehe Info-Kasten). Aber sagen Zahlen immer die Wahrheit? Was nützen trockene Statistiken, wenn man sich abends unwohl, unsicher, ja bedroht, fühlt? Am Wiener Platz kann dieses Gefühl entstehen, trotz Polizei-Präsenz.
Mülheimer Bürgermeister fordert Alkoholverbot
Vor allem Drogenabhängige trinken am Wiener Platz, in der Umgebung bekommen sie ihre Ersatzmittel, zum Beispiel Methadon. Danach haben viele von ihnen keine Aufgabe mehr, treffen sich, entweder auf den Freitreppen oder im U-Bahn-Bereich, trinken Bier, rauchen, schnacken. „Das ist halt deren Wohnzimmer“, sagt Sozialarbeiterin Jane van Well vom Sozialdienst Katholischer Männer (SKM). Sie ist häufig vor Ort, kennt die Verhältnisse von anderen Stellen, etwa dem Neumarkt. Der SKM versucht, die Menschen zu beschäftigen, unter anderem über das Programm „Kölner Feger“. Das Motto: Wer die Straße kehrt, hat ’was zu tun, hängt nicht ab, trinkt, stört andere.
Was sagt die Polizei?
Polizeisprecher Christoph Gilles sagt: „Der Wiener Platz ist ein Sorgenkind.“ Drogendelikte und Körperverletzungen seien besorgniserregend. Die Polizei sei verstärkt im Einsatz, um die Sicherheit zu verbessern. Körperliche Auseinandersetzungen würde es vor allem untereinander geben.
In den ersten drei Monaten 2019 hat die Polizei 71 Drogendelikte, 58 Körperverletzungen und neun Raubüberfälle registriert. 2017 gab es 940 kriminelle Taten, 2016 waren es 866, im Jahr zuvor 951. Zum Vergleich: Am Ebertplatz sind es 604 (2015), 828 (2016) und 1041 (2017). Am Neumarkt sind es 2510 (2015), 2262 (2016) und 2257 (2017).
Möglicherweise noch dieses Jahr will die Polizei bis zu sieben Kameras an vier Standorten platzieren. (ta/mhe)
Einer, der all diese Probleme kennt, ist Norbert Fuchs. Seit 30 Jahren ist der Platz sein Revier, seit 30 Jahren ist Fuchs SPD-Bürgermeister des Bezirks Mülheim. Seit Jahren fordert er ein Alkoholverbot, so will Fuchs das „nicht sozialkonforme Verhalten“ eindämmen, unter anderem lautstarke Auseinandersetzungen. Aber so einfach ist das alles nicht: Duisburg hat sich 2017 daran versucht, dann klagte eine Bürgerin erfolgreich, das Gericht urteilte: Alkoholkonsum ist nur mittelbar für eine mögliche Schädigung von Passanten durch Übergriffe oder Lärm verantwortlich.
Köln versammelt 15 „gefährliche Orte“
Und Fuchs weiß nur zu gut, wie das Geschäft läuft, der Messerangriff rückt den Platz jetzt wieder etwas ins Scheinwerferlicht, für einen Moment zumindest. Fuchs sagt: „Das hätte auch an jedem anderen Platz passieren können, so wie die Tat abgelaufen ist.“ Alkohol, ein Streit, ein Messer, ein Toter. Ein Ablauf, der so überall in einer Großstadt geschehen kann, klar. Das Düsseldorfer Innenministerium hat den Platz aber Ende 2017 als einen der 26 „gefährlichen und verrufenen Orte“ in Nordrhein-Westfalen einsortiert, 15 davon versammelt Köln, ein weiterer ist der Ebertplatz.
Sozialarbeiterin van Well hält von dem Vergleich der beiden Plätze nichts, der Ebertplatz sei fast verwaist gewesen, der „Wiener“ ist belebt: „Das ist keine No-Go-Area.“Tatsächlich brummt der Platz: Hier halten drei Stadtbahnlinien der Kölner Verkehrs-Betriebe, sieben Buslinien, hier steigt ständig jemand ein oder aus, hier ist Leben, Bewegung, Großstadt, der Clevische Ring, die Frankfurter Straße.
Mülheim entwickelt sich schnell
Und die Stadt hat ja Geld investiert, bis 2014 lief das Strukturförderprogramm Mülheim 2020, die vier großen Zahlen zieren in roter Farbe eine der Freitreppen, nach dem Motto: Seht’ her, wir haben doch ’was gemacht.
Ohnehin entwickelt sich der Stadtteil Mülheim mit enormen Tempo, am alten Hafen wächst ein hippes Wohnviertel, an der Keupstraße ein Büroquartier für 7000 Menschen. In den nächsten Jahren werden also deutlich mehr Menschen den Wiener Platz nutzen. Kann das die Chance sein? Mehr Nutzer gleich mehr Menschen, die sich über die Zustände aufregen, die eine Stimme in dieser Stadt haben?
Der Geschäftsinhaber sagt: „Wer in Mülheim wohnt, muss hier wohnen.“ Laut Statistik sind das Ende 2017 im Stadtteil insgesamt 53 Prozent mit Migrationshintergrund gewesen, 13,2 Prozent Arbeitslose, in Lindenthal liegt die Quote bei drei Prozent.
Wer über den Wiener Platz spricht, muss auch mit Stefan Schmitz reden, der Kölner Architekt hat ihn in den 1990er-Jahren entworfen. Aber seine Pläne sahen am westlichen Ende zur Mülheimer Brücke ein Torhaus vor, doch das kam nie, aus unterschiedlichen Gründen – „ohne das Haus hätte ich den Platz ganz anders geplant“, sagt Schmitz. So ist er laut Schmitz viel zu weitläufig, zu groß und „ein bisschen trostlos“. Der Geschäftsinhaber sagt: „Es wird jedes Jahr schlimmer hier.“