Köln – Der Tag, von dem sich Kölns Oberbürgermeisterin wünscht, er möge so sein wie jeder andere auch, bereitet Wicky Junggeburth regelrechte Schmerzen. „In der Magengrube ist es ein Gefühl als wenn jemand gestorben wäre. Da ist etwas völlig verloren gegangen“, trauert Junggeburth, der den emotionalen Rausch des Karnevals im Jahr 1993 als Prinz im Kölner Dreigestirn ausleben durfte. Wenn er an den 11. November denke, an dem die Stadt ab 11.11 Uhr in einen eintägigen Ausnahmezustand entschwebt, rebelliere sein Körper. „Ich habe regelrechte Verlustgefühl“, diagnostiziert er.
Das „Trömmelche“ wird nicht erklingen, das „Spillche“ nicht losgehen. Der Karneval ist für viele Menschen aus, bevor er beginnt. Selbst im Dreigestirn ist einer zu viel, da kennt die Corona-Schutzverordnung kein Pardon. Menschen aus zwei Haushalten dürfen sich treffen, mehr lässt die Kontaktbeschränkung nicht zu. Das gilt auch auf Straßen und Plätzen. Vielleicht ist die Nervosität der Verantwortlichen in der Stadtspitze sogar verständlich, schließlich sind in den vergangenen Jahren schon früh morgens Jecke aus dem Hauptbahnhof in die Altstadt getorkelt, weil sie das Kollektivbesäufnis mit Brauchtum verwechselt hatten.
Wie feiert ihr den Elften im Elften?
Henning Krautmacher
5 Auftritte hätten wir eigentlich mit den Höhnern am 11.11. gehabt. Dieser Tag kann für uns keiner wie jeder andere sein, denn wir können momentan unserem Job nicht nachgehen. Der Elfte im Elften hat für mich immer eine Rolle gespielt, mein Elternhaus hat mich geprägt, damals war ich ja auch Kinderprinz in Leverkusen. Wir haben auch auf die Fernsehaufzeichnung verzichtet, um keinen Feieranreiz zu Hause zu bieten. Es ist ein seltsames Gefühl an diesem Tag.“
9 Uhr werde ich auf dem Südfriedhof eine Beerdigung vorbereiten. In den vergangen Jahren habe ich für die Vertragsunterzeichnung des Dreigestirns im Rathaus die Litewka getragen, nun werde ich einen schwarzen Anzug anziehen. Mit dem Dreigestirn werde ich um 11.11 Uhr für das Fernsehen den Countdown runterzählen. Ich hoffe, dass ich abends auf der Couch sitzen kann und im WDR ein paar Bilder aus den vergangenen Jahren gezeigt werden.“
Das Kölner Dreigestirn
3 große Karnevalsfeiertage gibt es für uns. Den Elften im Elften, Weiberfastnacht und Rosenmontag. Für uns ist es ein wehmütiger Tag, der einzige öffentliche Termin ist eine Live-Schaltung fürs Fernsehen. Da blutet einem das Herz, wenn man sieht, was alles nicht passieren kann. Aber wir sind leidensfähig, und wenn die Menschen sich jetzt diszipliniert verhalten, können wir uns in der Session vielleicht noch was vom Karneval zurückholen.
Noch vor 15 Jahren ging nur bei bekennenden Karnevalisten am Elften im Elften zwischen all dem Totengedenken und Sankt-Martinsklängen der Puls hoch, inzwischen ist Köln an diesem Datum ein Pilgerort einer ganzen Partygeneration geworden. Im Notwehr-Modus hat die Stadt eine Plakatkampagne gestartet, um den Massen klar zu machen, dass hier dieses Mal wirklich niemand feiern wird. Unlängst hatte Reker gemahnt, Köln wolle als Karnevalshochburg bekannt bleiben und nicht als Hochburg der Infektionszahlen. Dennoch hat die Stadt schon mal Zäune im Studentenviertel aufgebaut.
Chance, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren
Wenn die Vernunft gegen das emotionale Aufbegehren der Rheinländer die Oberhand behält, ist das noch Karneval? „Das Fehlen der Ausgelassenheit kann betrauert werden. Aber es ist die Chance, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren“, gibt der Psychologe und Karnevalsautor Wolfgang Oelsner zu bedenken. Festkomitee-Präsident Christoph Kuckelkorn hat stets postuliert, Karneval könne man ebenso wenig absagen wie Weihnachten. Oelsner unterstützt diese These und fragt provokativ: „Was bleibt von Weihnachten ohne Weihnachtsmärkte?“ Seine Antwort: „Der Mensch wird gezwungen, essenziell zu werden.“
Der Historiker Michael Euler-Schmidt, Roter Funk und Brauchtumsexperte, will zum Sessionsbeginn daheim im Wohnzimmer die Karnevalsmütze aufsetzen und kölsche Lieder hören. „Der Karneval ist überfeiert“, stellt er kritisch fest, der Kommerz habe viele Traditionen überdeckt, das sommerliche Musikfest „Jeck im Sunnesching“ sei so ein Beispiel. Er hofft, dass sich der ein oder andere auf den Kern des Festes besinnt. Wicky Junggeburth blickt eher pragmatisch auf den Corona-Karneval: „Die Session 2021 wird als diejenige in die Geschichte eingehen, die einfach ausgefallen ist“, lautet seine ungeschminkte Prognose.
Karneval ist Lebensbejahung und Endzeitmahnung
Der Psychologe Wolfgang Oelsner hat bereits von mehreren Karnevalsvereinen Anfragen für Vorträge erhalten – etwa über das kölsche Liedgut. In vielen Liedern geht es um Vergänglichkeit, um Tod, um das letzte Stündlein. Stimmungskiller sind diese Lieder aber keineswegs. „Viele dieser Lieder sind ein Wegbegleiter von der Wiege bis zur Bahre. Sie sind wie zwei Seiten ein und derselben Lebensmedaille, denn auch der Karneval ist zugleich Lebensbejahung und Endzeitmahnung“, sagt Oelsner. „Alle Jläser huh“ von Kasalla ist so eine Nummer, bei der auch mit denen getrunken wird, „die im Himmel sind“, ebenso das „Leben nach dem Tod“ von den Bläck Fööss. Oelsner hofft, dass sich mancher „im Kopf den ganzen Text dieser Lieder zu Gemüte führt“.
Der Gemütszustand vieler Feiernder lässt sich an Karneval meist in Promille angeben. Und nun? Setzen sich die Jecken wissbegierig an ihre Smartphones und dürsten nach der Karnevalshistorie wie nach einem frisch gezapften Kölsch? Früher begann nach dem 11. November die adventliche Fastenzeit, vorher wurde nochmal festlich die Martinsgans angerichtet. „Die Session 2021 wird die andere Session. Ich würde mir wünschen, dass etwas hängen bleibt. Und sei es die Sehnsucht auf 2022“, hofft Oelsner.
Corona als emotionaler Absacker
Die Pandemie wirkt nicht nur im Karneval wie ein emotionaler Absacker. Angesichts von Besuchsverboten in Krankenhäusern, abgesagten Martinszügen und geschlossenen Lokalen mag das Leid der Karnevalisten lapidar erscheinen. Das Festkomitee in Köln hat jedenfalls noch schnell ein Dreigestirn ausgerufen – als wichtige Symbolfiguren in Zeiten der Krise. Doch nun fällt nicht nur die große Party auf dem Heumarkt flach, auch die Ersatz-Veranstaltung in der Wagenbauhalle des Festkomitees wurde vorsichtshalber abgesagt. Nun wird das Dreigestirn mal kurz im Interview für das WDR-Fernsehen in ein steriles Mikrofon grüßen, das war es. „Ein Hybrid-Dreigestirn wird schwierig werden. Prinz, Bauer und Jungfrau sind dann interessant, wenn sie körperlich anwesend sind“, hat Ex-Prinz Junggeburth festgestellt. Genau diese Anforderung und Erwartungshaltung passt nicht zur Corona-Krise. Nach Ansicht von Wolfgang Oelsner, dem Psychologen, kann dieses Karnevalsexperiment gelingen, „wenn sich die Menschen auf einen Perspektivwechsel einlassen“.
Noch zu Jahresbeginn fühlten sich die Karnevalisten siegessicher, in Düsseldorf rollte Rosenmontag ein Persiflagewagen durch die Straßen, auf dem das Karnevalsvirus triumphierend das Corona-Virus veralbert. Zum Jahresende hat der Karneval kapituliert.
Plötzlich dürfen sich alle fühlen wie der „ahle Mann“, der wie im Lied der Bläck Fööss vor der Wirtschaftstür steht. Allein mit sich und dem Gefühl, dass es drinnen schöner wäre.