Zehntausende Menschen feiern in Köln trotz hoher Infektionszahlen.
Eine Absage sei nicht realistisch gewesen, sagt die Stadt, für das Festkomitee ist der Tag ein Testlauf für den Sitzungskarneval.
Köln – Das Konterfei von Willi Ostermann, dem legendären Kölner Komponisten, steht etwas abseits der großen Bühne auf einer Wiese. Wohl niemand hat jemals so intensiv wie er die Sehnsucht nach den guten alten Zeiten besungen: „Och wat wor dat fröher schön doch en Colonia“. In seinem Namen eröffnet die Willi-Ostermann-Gesellschaft hier seit Jahrzehnten die Session. Am Elften im Elften des Jahres 2021 haben die Dramaturgen die uniformierten Präsidenten aller neun Kölner Traditionskorps auf der Bühne versammelt. Sie hauen mit viel Verve auf Standpauken, vor ihnen singt Räuber-Gründer Karl-Heinz Brand das Lied vom Trömmelche, das wieder „jeiht“. Köln trommelt die Jecken der Republik zusammen.
Deutschland debattiert über den Kölner Karneval
Der närrische Countdown auf der Zülpicher Straße inmitten des Studentenviertels fällt etwas derber aus. Bier spritzt in die Luft, Tausende meist junge Menschen schreien ihren aufgestauten Feierwillen heraus, dann skandiert die wippende Masse: „Wer nicht hüpft, der ist kein Kölner“. Es ist diese Szene, die TV-Moderator Jan Böhmermann auf Twitter im Laufe des Tages mit Sarkasmus garniert: „Alaaf! Heute als „Sexy Krankenschwester“ auf der Zülpicher Straße, an Weihnachten als „Sexy Intubierte“ in der Uniklinik!“
Der omnipräsente SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach wünscht den Jecken „eine gute Zeit“ und rät von Innenraum-Veranstaltungen ab. Und schon debattiert Deutschland über den Kölner Karneval inmitten der vierten Welle der Coronapandemie.
Als Oberbürgermeisterin Henriette Reker am Mittag auf der Bühne am Heumarkt steht, wirkt ihr Optimismus ein wenig erzwungen. „Wir freuen uns alle, dass wir wieder feiern können. Aber wir wollen alle nicht erleben, dass wir kritisiert werden“, sagt sie und scheint die Reaktionen außerhalb des kölschen Kosmos bereits zu erahnen.
Als sie später im Rathaus sitzt, verteidigt sie die Entscheidung des Kölner Krisenstabs, den lokalen Feiertag nicht unterbunden zu haben. „Ich glaube, dass ein vollständiges Verbot rechtlich nicht möglich gewesen wäre. Ein Verbot hätten sich die Menschen nicht mehr gefallen lassen“, sagt sie. Die Situation sei nicht mehr vergleichbar mit dem Karnevalsverzicht vor einem Jahr, als die Impfquote bei Null lag. „Wir können nicht verbieten, in großer Verantwortung zu feiern“, stellt sie fest.
Noch zu Wochenbeginn hatte die Stadt eilig beim Land eine Verschärfung der Feierbedingungen erbeten und eine 2G-Regelung erreicht. Während die Oberbürgermeisterin selbst fast nicht ins Rathaus gekommen wäre, weil sie ihren Ausweis vergessen hatte, fallen die Kontrollen im Studentenviertel deutlich laxer aus. Den Ausweis muss hier kaum jemand zum Impfnachweis vorzeigen.
Als die Spitze des Kölner Festkomitees im Sommer in der Düsseldorfer Staatskanzlei die Möglichkeiten für die Karnevalssession 2021/22 auslotete, wurde ein Argument immer wieder ausgepackt: Wenn wir dieses Jahr keinen Karneval feiern, dann feiern wir nie mehr, hieß es. An der Impfquote werde sich nicht mehr viel ändern, der Karneval falle traditionell in die Erkältungszeit. Doch mit einer deutschlandweiten Sieben-Tage-Inzidenz von 249,1 und 50 196 Corona-Neuinfektionen zum Elften im Elften hatte da noch niemand gerechnet.
Schon im Januar hatten sich die Karnevalisten Kritik gefallen lassen müssen, weil das Kölner Dreigestirn just an dem Tag proklamiert wurde, als das Robert-Koch-Institut die Höchstzahl der Coronatoten binnen eines Tages bekannt gegeben hatte. Doch nun schwört auch Festkomitee-Präsident Christoph Kuckelkorn auf die 2G-Sicherheit. „Die Menschen haben enorm Lust zu feiern. Es gibt ein Verlangen nach Gemeinschaft, nach Erlebnis, nach Schunkeln“, bilanziert er und beobachtet, „dass die Konzepte aufzugehen scheinen“. Sein großes Anliegen sei „Normalität“. In der Altstadt feiern nach Schätzungen der Stadt 50 000 Menschen den Sessionsbeginn, deutlich weniger als vor der Pandemie, der Alter Markt ist nur zur Hälfte gefüllt.
Anders sieht es an der Zülpicher Straße aus, hier rät die Polizei am frühen Nachmittag von einer Anreise ab, die Straße ist voll, die Feiernden werden auf die Uniwiese umgeleitet und in Gehege gelotst, in denen Karnevalsmusik läuft. Schon mittags fliegen erste Flaschen auf Mitarbeiter des Ordnungsamts. Polizeipräsident Uwe Jacob spricht am Nachmittag in einer Zwischenbilanz von einer „ruhigen und übersichtlichen Lage“, befürchtet aber, dass sich dies in der Nacht ändern könnte. Mehr als 1100 Beamte sind in der Stadt im Einsatz – so viele wie schon vor der Pandemie, wenn in Köln für einen Tag der Karneval ausbricht.
Im Schatten von Willi Ostermann zupft derweil Jörg P. Weber auf der Heumarkt-Bühne „Heimweh noh Kölle“, noch so ein Klassiker in kölscher Sprache. Am Rhein versteht man das.