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Interview mit Jürgen Becker„Beim Klerus wie bei Corona: möglichst wenig Kontakte“

Lesezeit 6 Minuten

„Dass ich alles sagen darf, was ich will, ist eine Errungenschaft“: Jürgen Becker, 61, Kabarettist.

  1. Nach 28 Jahren verlässt Jürgen Becker die „Mitternachtsspitzen“
  2. Ein Gespräch über Otto Waalkes, Lieblingskanzler und das Publikum im Home-Office

KölnHerr Becker, Sie waren Anfang 30, als Sie mit den Mitternachtsspitzen angefangen haben. Waren Sie nicht fürchterlich aufgeregt?

Sehr sogar. Ich hatte damals „Biotop für Bekloppte“ in der Kneipe „Spielplatz“ am Ubierring gespielt, das war ein rein Kölner Programm. Das hat der Redakteur Rolf Brinkmann gesehen, und der WDR hat mir danach eine Sendung angeboten. Dass es mehrere werden, war anfangs nicht klar. Und dann wusste ich aber: Es muss anders werden. Richard Rogler hat das sehr prägnant gemacht, aber mit Schlips und Kragen und Sekt auf den Tischen. So bin ich halt nicht.

Haben Sie eine Krawatte?

Nein, ich weiß gar nicht, wie man die bindet. Heute ist es ja eher so, dass die Politiker keinen Schlips mehr tragen, aber die Kabarettisten. Florian Schröder oder Jan Böhmermann etwa, das steht ihnen auch sehr gut. Ich habe mich eher am Volkstheater orientiert, mein Vorbild war der „Blaue Bock“ mit Heinz Schenk. Das war konservativ, vielleicht etwas spießig, aber mit sehr viel Mühe und Liebe gemacht, das hat man gespürt. Und es war einer dabei, Reno Nonsens, der über alles gemeckert hat. Das fand ich auch toll, so kam ich zu der Rolle von Wilfried Schmickler. Prima, dachte ich, der soll zum Schluss alles zu Klump hauen, was ich gesagt habe.

Das macht er bis heute: „Aufhören, Herr Becker!“

Genau. Ich kannte ihn von der Bühne, er war mein Nachfolger beim „3 Gestirn Köln 1“. Wir sind da sehr frei reingegangen. Wir hatten zu Anfang auch Musik dabei, Wolfgang Niedecken oder die Bläck Fööss, aber das kam nicht so gut an, also haben wir es wieder gestrichen.

Becker

Gastgeber Jürgen Becker in der Rolle des "Heimathirsch" bei den "Mitternachtsspitzen".

Schon in der ersten Sendung haben Sie sich Kardinal Meisner vorgeknöpft. Ohne die katholische Kirche hätte die Sendung nicht so gut funktioniert, oder?

Das ist natürlich ein Geschenk. Kabarett ist immer stark, wenn man sich an etwas reiben kann. In Bayern an der CSU, in Leipzig an der SED. In katholischen Gegenden gibt es viel mehr Kabarett als in protestantischen, das verläuft weitgehend analog zum Karneval. In Leipzig gab es in der DDR sogar Kabarett für die Werktätigen, da ziehe ich meinen Hut. Ich habe es nie als selbstverständlich angesehen, dass ich alles sagen durfte, was ich wollte. Das ist eine Errungenschaft.

Aber Konflikte mit der Kirche gehörten doch wie bei der Stunksitzung zum guten Ton.

Damals war die Kirche mächtiger. Heute ist sie eine sterbende Institution, man möchte sie fast schützen. Als ich angefangen habe, hieß es immer: Jesus gut, Kirche schlecht. Heute sagen die Leute: Kirche gut, Klerus schlecht. Die Arbeit an der Basis ist toll, die setzen sich für die richtigen Dinge ein, da kann man andocken. Aber an der Kirchenspitze wird es schwierig.

Wie bitte, Mitleid mit Kardinal Woelki? Kommt er in der letzten Ausgabe vor?

Mal sehen. Wenn er dann noch im Amt ist (lacht). Beim Klerus gilt das Gleiche wie bei Corona: möglichst wenig Kontakte.

Die Mitternachtsspitzen waren anfangs sehr rheinländisch geprägt...

.. was schwierig war, denn wir wollten natürlich ganz Nordrhein-Westfalen repräsentieren. So sind wir auf Uwe Lyko gekommen, der damals nur Herbert Knebel gespielt hat.

Ruhrpott.

Genau. Er war der Ruhrpottrentner, der damals so alt war, wie Lyko heute ist. Er ist quasi hinter seiner Fassade in das Alter gereift, das er repräsentiert hat, ganz schön schlau (lacht). Jedenfalls hat er hinter der Bühne öfter mal paffend Helmut Schmidt nachgemacht, und dann brauchten wir nur noch Loki, und das passte mit Wilfried Schmickler sehr gut. Daraus wurden dann die überschätzten Paare der Weltgeschichte.

Klassiker im WDR-Fernsehen

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1988 lud Richard Rogler im Alten Wartesaal (Heute: „Wartesaal“) unter dem Hauptbahnhof zur Premiere der „Mitternachtsspitzen“. Heute ist es die älteste Kabarettsendung im deutschen Fernsehen. Das Konzept lautet wie vor mehr als drei Jahrzehnten: Das politische Geschehen mit Gästen aus der Kleinkunst satirisch kommentieren. Am 9. November 1989 wurden die Zuschauer live in der Sendung über die Öffnung der Mauer informiert.

Nach Kritik am Rundfunkrat gab Rogler 1991 nicht ganz freiwillig die Gastgeberrolle ab. Ein Jahr später übernahmen die Kollegen Jürgen Becker und Wilfried Schmickler. Nachdem Schmickler und Uwe Lyko (seit 1996 dabei) schon im vergangenen Jahr ihren Abgang verkündet hatten, sagte Becker: „Das ist ein großer Verlust. Ohne meine geliebten Stallgefährten fühle ich mich wieder wie 1992: Es beginnt etwas Neues, mir geht der Arsch auf Grundeis!“ Im August kündigte auch Becker (61) den Rückzug an.

238 Mal hat der Kabarettist die „Mitternachtsspitzen“ moderiert. Bekannt ist seine Figur des „Heimathirschen“ (l.) Wilfried Schmickler und Uwe Lyko brillierten in der Rolle von Loki und Smoky (2.v.l.), später als überschätzte Paare der Weltgeschichte. 2014 wurde Becker nach einem Motorradunfall aus der Klinik zugeschaltet.

Becker, Schmickler und Lyko übergeben nun die Fernbedienung (!) an Christoph Sieber (r.), der ab Februar 2021 als Gastgeber auftreten wird. Gäste wie Susanne Pätzold bleiben dabei.

Die Sendung ist am Samstag ab 21.45 Uhr im WDR zu sehen. Danach gibt es ab 22.45 bis 23.15 Uhr das Special „Überschätzte Paare der Weltgeschichte“. (mft)

Wilfried sieht auch als Angela Merkel fantastisch aus, er wird immer sehr für seine Beine gelobt. Ich nenne das, das Recht auf Albernheit, diese volkstümliche, karnevalistische Note hat der Sendung gut getan. Mein Credo war: Kabarett schön und gut, aber man muss auch mal einen Witz machen.

Wer waren Ihre Vorbilder?

Otto habe ich geliebt, den kannte ich auswendig. Im Grunde war es Robert Gernhardt, der die meisten Texte geschrieben hat. Oder die MAD-Hefte von Herbert Feuerstein. Ich habe alle humorvollen Geschichten aufgenommen, und das steuert das Gehirn.

Sie haben in der Sendung Helmut Kohl, Gerhard Schröder und Angela Merkel im Kanzleramt begleitet. Mit wem war es am schönsten?

Bei Kohl war die Einheit und was daraus folgte interessant, aber richtig spannend wurde es mit Schröder und Joschka Fischer: Krieg oder nicht, Farbbeutel, eine wilde Zeit. Angela Merkel hat sich für die Flüchtlinge stark gemacht, und damit kamen die Rechtspopulisten. Das bedeutete in der Sendung einen Paradigmenwechsel, denn plötzlich ging es nicht mehr darum, die Politik zu kritisieren, sondern sie zu verteidigen.

Ist das schwieriger?

Absolut. Ich hätte nie gedacht, mich mal in Angela Merkel wiederzuentdecken. Aber es ist so: Kabarett muss die Themen bildlich so umsetzen, dass die Menschen Spaß daran haben, sich damit zu beschäftigen. Die Karikatur in der Kölnischen Rundschau funktioniert so ähnlich. Nur Blei macht keinen Spaß. Und dann sind alle Meinungen erlaubt.

Was bleibt Ihnen als Bild im Kopf aus 28 Jahren Stunksitzung?

Das war die Sendung nach meinem Motorradunfall 2014. Ich habe dann mit Gipsarm und Beckenbruch aus dem Krankenbett etwas beigetragen, sehr speziell.

Die letzte Ausgabe muss nun ohne Publikum produziert werden. Sie schicken Ihr Publikum ins Home-Office?

Genau, wir haben einige Wohngemeinschaften ausgesucht. Die bekommen ein Empfangsgerät, ich habe Bier und Chips vorher vorbeigebracht. Da ist zum Beispiel eine WG aus Heimersdorf dabei, vermutlich die einzige im Veedel, die ist toll. Das Publikum kann uns hören, und wir sie, das funktioniert. Der Wartesaal wird mit Weihnachtsbuden ausgestattet für die Künstler.

Und was kommt danach?

Ich möchte schnell wieder auf der Bühne stehen, auch vor wenigen Gästen. Es gibt einige Fernseh-Ideen, und ich möchte die Frühstückspause mit Didi Jünemann weiter machen. Nächstes Jahr werden das 30 Jahre. Ich mache alles immer sehr lang.