Freizeit ist kostbar - viele Menschen überlegen genau, wofür sie ihr Geld ausgeben. Professor Raphael Breidenbach von der Hochschule Koblenz erklärt, wie es in der Region in der Branche aussieht.
Interview mit FreizeitforscherWie steht es um die Freizeitwirtschaft im Rheinland, Herr Breidenbach?
Was fällt wissenschaftlich betrachtet unter „Freizeitwirtschaft“?
Das ist eine komplexe Angelegenheit. So gibt verschiedene Zugangsweisen zur Thematik: eine, die der volkswirtschaftlichen Betrachtung folgt und eine, die dem Erleben von Menschen fokussiert. Die Branche „Freizeit“ ist zum Beispiel bei der Datenbank Statista in die Bereiche Freizeit- und Tierparks, Glücksspiel, Hobby und Freizeitverhalten sowie Kunst, Kultur und Events unterteilt. Freizeit ist allerdings auch ein individuelles Vorstellungsgefühl.
Alles, was ich in diesem Kontext tue, könnte ich auch im weitesten Sinne der Freizeitwirtschaft zuordnen. Statista spricht von 199,7 Milliarden Euro, die die Deutschen 2023 im Freizeitmarkt ausgegeben haben. Und dann gibt es parallel dazu noch den Bereich Tourismus, der natürlich enge Bezüge zur Freizeit aufweist.
Unsere Möglichkeiten der Freizeitgestaltung sind vielfältig. Ständig treten neue Trends auf und alte verschwinden. Der Besuch von Freizeiteinrichtungen wie Kinos, Konzerten, Museen oder Theatern stellt in Deutschland eine beliebte Freizeitbeschäftigung dar. Übrigens auch das Fernsehen oder Smartphone. Gleichzeitig finden Outdoor-Aktivitäten großen Anklang: Egal, ob Eventbesuch, Spazieren gehen, Wandern und Radfahren oder Trendsportarten wie dem Bouldern oder Stand-Up-Paddling - für jeden Geschmack findet sich die richtige Freizeitaktivität.
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Können Sie skizzieren, wie sich die Freizeitwirtschaft vor und nach Corona entwickelt hat? Die Pandemie war ja ein ziemlicher Einschnitt.
Ja. Alles, was Freizeit ja eigentlich ausmacht - sich mit anderen Menschen zu treffen, sich gegenseitig zu bereichern - war natürlich reduziert, wenn nicht sogar komplett gestrichen. Das bedeutete konkret, dass große Events, Gastronomie und Co., die man auch letztlich der Freizeitwirtschaft zuordnen kann, geschlossen hatten.
Ein großer Schwung ist in den Bereich der digitalen Freizeiterlebnisse migriert. Es gab eine Verschiebung von Live-Erlebnissen hin zu kleinen Familien- und Lebensverbünden und auch in den Bereich der digitalen Welt. Gucken Sie sich an, wie Netflix oder die Spieleindustrie sich in diesem Zeitraum entwickelt haben.
Waren diese Entwicklungen von Dauer oder sind einige Menschen nach Aufhebung der Beschränkungen wieder davon abgewandert?
Wenn man Spiele und Computerindustrie betrachtet, hat der Aufwind angehalten. Das sieht man ja auch in den Börsenkursen der entsprechenden Spiele- und Hardwarehersteller. Was die individuellen Freizeit-Verhaltensweisen betrifft, war die ganz große Hoffnung: Nach Corona fallen die Beschränkungen und alle erkennen wieder den Wert zwischenmenschlicher Begegnung.
Alle würden wieder zusammen die Gelegenheit suchen, sich auszutauschen, und die großen Events wären wieder das große Thema. Das hat sich partiell zumindest bei den einschlägigen Großevents gezeigt: Rock am Ring, Wacken, sind so Beispiele oder auch besondere Kulturevents wie Opernfestspiele, überhaupt Festspiele. Das hat sich wieder belebt. Diese Events hatten aber auch immer ihre Fans. Die haben im Grunde den Stecker wieder reingesteckt und dann ging es weiter.
Würden Sie sagen, dass es nur die alten Fans sind, oder hat sich da irgendwas verändert?
Die alten Fangruppen haben sich wieder in ihren früheren Spielwiesen versammelt. Also die Annahme, dass zum Beispiel junge Leute plötzlich die Opernfestspiele für sich entdecken würden, hat sich so nicht bewahrheitet. Das hat übrigens auch, und das wird ja wahrscheinlich noch ein Thema sein, mit Geld zu tun.
Was sind hier im Rheinland die stärksten Freizeitwirtschaftsfaktoren?
Sie haben ja zum Beispiel den Freizeitpark Phantasialand vor der Haustür. Solche Freizeitparks sind ein wichtiges Element, sie nehmen sich immer wieder neue Themen, versuchen, jedes Jahr ein neues Highlight zu kreieren. Sie haben nach wie vor eine große Sogwirkung und haben sich relativ gut oder, sagen wir, stabil entwickelt.
Was auch ganz gut im Rheinland läuft, sind die Weinfeste rund um Köln. Die sind voll und gut besucht. Und natürlich der Karneval! Wenn er nicht so teuer wäre - und damit die jungen Leute zumindest beim Sitzungskarneval ein bisschen abhält.
Inwiefern?
Der traditionelle Sitzungskarneval hatte schon in der letzten Session durchaus Probleme, seine Karten zu verkaufen. Von ganz großen Gesellschaften abgesehen, wie der Prinzengarde und den Blauen und Roten Funken. Aber die anderen hatten massive Probleme, weil die Karten einfach schlicht und ergreifend zu teuer sind. Auch den Getränkezwang in manchen Sälen finde ich persönlich nicht mehr zeitgemäß. Der schreckt junge Leute ab.
Das weiß übrigens das Festkomitee Kölner Karneval auch. Eintrittskarten kosten teils über 50 Euro – und dann weiß man, wenn man Pech hat, noch nicht mal, wo man sitzt. Der Preis für ein Kölsch ist auch recht hoch. Und Senioren fahren ja zum Teil im Taxi dorthin. Da stellen sich zumindest für bestimmte Gruppen innerhalb der Senioren die Frage: Ist das für uns überhaupt noch leistbar?
Hier könnte der organisierte Karneval in Zukunft verstärkt an niedrigschwelligen Angeboten arbeiten. Und zugleich seine kulturelle wie gemeinschaftsstiftende Wirkung betonen.
Gibt es Bereiche aus der Freizeitwirtschaft, die unter die Räder gekommen sind?
Ich erlebe die Gastronomiebranche, die ächzt und stöhnt. In Zeiten, in denen das Nettohaushaltseinkommen schrumpft, überlegen sich Leute genauer: In was investieren sie eigentlich? Und wenn ich dann vor der Wahl stehe, an einem Festival, einem Event teilzunehmen oder essen zu gehen, dann gehe ich, mal ganz platt ausgedrückt, in den Supermarkt und kaufe mir Brötchen. Und nicht nur in Köln, Düsseldorf, sondern auch drumherum: Gucken Sie sich die Preisentwicklungen mal an, in den Restaurants, in den Gastronomiebereichen.
Im Freizeitbereich Tourismus und Urlaub ist das anders?
Richtig. Für Urlaub sind wir bereit, vieles hinzunehmen. Bemerkenswert ist, dass zwar das Freizeiterleben oder auch das Reiseerleben angestrebt wird, aber dann innerhalb der Aktivität nach Kostensenkungsmöglichkeiten gesucht wird. Die anhaltende Popularität von All-inclusive kommt ja nicht von ungefähr.
Freizeit wird für den Einzelnen immer kostbarer: Was können Anbieter aus Ihrer Sicht tun, um den Erwartungen und Bedürfnissen des Marktes gerecht zu werden?
Also der Markt ist ja nicht homogen. Es gibt unterschiedliche Gruppierungen, die nach unterschiedlichen Dingen fragen. Man müsste eigentlich in den jeweiligen Angebotssegmenten unterwegs sein. Klassische Events sind nicht so preissensibel. Da geht es vor allen Dingen um das inhaltliche Angebot selber oder um die Besetzung.
Ein wichtiger anderer Faktor ist die Frage des Zugangs. Erreichbarkeit, zum Beispiel mit dem ÖPNV, ist ein Riesenthema und die Frage danach: was kostet das Ganze? Auch Bequemlichkeit ist ein Faktor. Bestes Beispiel: Zahlungssysteme. Versuchen Sie im Karneval mal an der Kasse bar zu zahlen!
Sie betrachten die Freizeitwirtschaft auch unter dem Aspekt Arbeitsbedingungen Beschäftigungsmöglichkeiten. Wie ist denn da aktuell Angebot und Nachfrage?
Es ist immer schwierig, pauschale Aussagen zu treffen. Nichtsdestotrotz kann man sagen: Die Tatsache, dass es einen spürbaren Mangel an Arbeitskräften gibt, ist ja mal ein deutliches Signal. Die Freizeitbranche war zumindest eine, die auch ungelernten Kräften eine Option gegeben hat, Geld zu verdienen.
Aber: Die Branche hat Beschäftigte, vorsichtig ausgedrückt, nicht unbedingt so positiv behandelt, nur Mindestlohn gezahlt, es gab kaum Entwicklungs- und Weiterbildungsmöglichkeiten. Dann sind es oft nicht dauerhafte, sondern saisonale Anstellungen.
Und das fällt ihnen jetzt auf die Füße?
Ja. Vor allem, das sagen Statistiken, im Bereich der Minijobs. Die Nachfrage im Freizeitbereich scheint rückläufig. Nicht selten hat zum Beispiel die Gastronomie ihre Öffnungszeiten dem Arbeitskräftemangel angepasst. Einige Betriebe öffnen nur noch ein paar Tage die Woche. Es scheint schwerer, sie zu besetzen, weil die Beschäftigten da ja auch noch Dienst zu ungünstigen Zeiten haben.
Wie groß ist der wirtschaftliche Effekt der Freizeitbranche, gerade in einer Region wie unserer? Wie wirkt sich etwa der Besuch einer vierköpfigen Familie im Phantasialand aus?
Den wirtschaftlichen Effekt im Rheinland präzise zu erfassen, ist herausfordernd - auch wegen der Abgrenzungsfrage. Wie gesagt, Freizeit und Tourismus sind separiert voneinander erfasst. Wenn ich den wirtschaftlichen Effekt einer Freizeitveranstaltung betrachte, werden an verschiedenen Orten in verschiedenen Situationen Umsätze generiert. Eigentlich geht es nicht nur um die Ausgaben vor Ort, sondern um das ganze Drumherum. Da wird überall etwas ausgegeben.
Auch der Einzelhandel profitiert. Die Leute gehen nicht nur zu den Veranstaltungen, sondern wenn die mehrtägig sind, gehen die Leute auch mal einkaufen. Und es ist auch so, dass die Attraktivität eines Arbeitgebers sehr mit der Attraktivität, mit dem Freizeitwert der Region zu tun hat.
Haben Sie dafür ein Beispiel?
Warum beteiligen sich so viele Firmen an Firmenläufen? Man könnte sagen, betriebliche Gesundheitsförderung und Teambuilding. Vielleicht geht es aber auch darum, sich als Arbeitgeber ein sportliches, mobiles, ein moderneres Image zu geben. Und wer organisiert denn diese Veranstaltungen? Das sind Sport- und Eventveranstalter, die sich Sponsoren suchen. Das sind schon Synergieeffekte.
Städte wie München haben immer noch trotz der hohen Mietpreise einen starken Zuzug, auch weil sie einen enorm hohen Freizeitwert haben. Und je mehr die Frage der Mobilität - Stichwort Homeoffice - eine andere Dimension bekommt, umso spannender wird es für Firmen, an Standorten zu sein, die Freizeitwert haben. Wir können auch das Gegenteil nehmen. Gucken Sie in Deutschlands Osten. Da herrscht ja in bestimmten Regionen, könnte man fast sagen, eine Landflucht.
Freizeitangebote sind also für eine Stadt und für Unternehmen ein Pullfaktor, um Menschen sozusagen anzulocken?
Ja. Je vielfältiger und besser koordiniert das Ganze ist, desto besser für die Region. Und man kann auch versuchen, mit einem gemeinsamen digitalen Angebot die Region auch noch stärker zu positionieren. Es geht nicht nur um die Umsätze, die im Rahmen der Freizeit oder Tourismuswirtschaft generiert werden. Es geht um die Attraktivität einer ganzen Region. Touristen im Übrigen suchen ja nicht nur unbedingt einen Ort, sondern sie wollen auch etwas erleben. Irgendwann habe ich den Kölner Dom gesehen, dann ist die Frage: Was mache ich als nächstes? Und dann sind natürlich Optionen, die die Freizeitwirtschaft zur Verfügung stellt, ein ganz zentraler Faktor.
Wie sehen Sie die zunehmende Kommerzialisierung bestimmter Freizeitbereiche? Welche Probleme liegen darin?
Also immer da, wo sich eine Geschäftsmöglichkeit auftut, taucht auch Kommerz auf. Das ist ja systemimmanent. Die zentrale Frage ist nicht unbedingt die Kommerzialisierung, sondern eher: Was ist denn eigentlich der Gegenwert für mein Geld? Und dann macht es auch mal Sinn, in die verschiedenen Einkommensgruppen unserer Bevölkerung hinein zu schauen. Im Bereich Klassik und Theater und Co. ist die Altersstruktur des Publikums ja schon fortgeschrittenen Datums.
Wo sind die jungen Leute? Es ist doch nicht so, dass sie das nicht interessieren würde. Wenn ich im Hörsaal mit meinen Studierenden darüber spreche, gibt es durchaus Interessen in diesem Bereich. Aber jetzt kommen wir zum Kommerz, der in letzter Konsequenz auch als Preistreiber wirkt. Da braucht man sich nicht wundern, dass die Nachfrage deutlich nachlässt. Und die Tatsache, dass ein Biergarten voll ist, heißt nicht unbedingt, dass die Umsatzgröße entsprechend ist.
Studien zufolge sind Fernsehen, Radio hören und auch am Handy herumspielen die führenden Freizeitaktivitäten. Jetzt kommt die interessante Frage: Wer profitiert wirtschaftlich betrachtet von diesen Dingen? Das ist IT-Branche, die Radio- und Fernsehmedien oder Netflix und Co. Sie sind diejenigen, die da sozusagen ihre Spielwiese gefunden haben. Nicht umsonst kann Amazon bei Amazon Prime zunehmend die Preisschraube drehen. Und Freizeit ist heute auch stark digitalisiert.
Wie sieht es mit der Gaming-Industrie aus, die ja auch immer größer wird?
Die Spieleindustrie hat in den letzten Jahren durch Corona einen riesigen Push bekommen, und ich habe den Eindruck, die Dynamik hat sie beibehalten. Und wir haben mittlerweile hybride Event- beziehungsweise Erlebnisformen. Stichwort Virtual Reality auf der einen Seite und Live Events in Stadien auf der anderen Seite. Dort können Sie bereits mit Handys oder anderen Optionen live und digital Erlebnisse miteinander verbinden.
Steht die Freizeitbranche dann vor der Herausforderung, dass sie die gestiegenen Kosten abfedern muss, aber gleichzeitig ihre Preise nicht zu hoch treiben darf, um die einkommensschwächeren Zielgruppen nicht abzuhängen?
Das wäre ein sozialwirtschaftlicher Aspekt der Thematik. Die Idee, für einkommensschwächere Gruppen Angebote zu machen ist etwas, was in der Regel im Bereich Stadtentwicklung liegt. Da landet man bei Sportvereinen und bei anderen Clubs und Vereinen, die auch tolle Angebote im Bereich Freizeitgestaltung machen, die man oft gar nicht so sieht.
Aber denjenigen, die in der Lage sind, hochpreisige Veranstaltungen anzubieten, ist völlig wurscht, ob da jemand aus einfacheren oder komplexeren Verhältnissen stammt, Hauptsache er bezahlt Eintritt. Leuchttürme in der Eventszene, wie Konzerte vom Taylor Swift oder Rammstein, werden nach wie vor für Kapitalstarke das El Dorado sein. Da gilt auch: Sehen und gesehen werden. Und es würde ja niemand hinterher zugeben, wenn es sich nicht gelohnt hätte, so viel Geld auszugeben.
Wir blicken gerade auf die EM zurück, wo Köln eine der Spielstätten war. Gibt es schon Erkenntnisse, wie sich das für die Freizeitwirtschaft rentiert hat?
Bei allen sportlichen Großevents, die durchaus enorme Umsätze generieren, sind vor allem die Sportverbände der große Gewinner. Das ist auch bei Olympischen Spielen so. Allerdings gab es in den Spielstädten Investitionen durch Renovierungsarbeiten und den Ausbau von Stadien sowie Verbesserungen der städtischen Infrastruktur.
Gleichwohl ist nicht so, dass die Regionen tatsächlich in großem Maße davon profitieren würden. Klar, bei der EM waren unglaublich viele Menschen und es war für die Leute toll. Punktuell ist es im Einzelhandel schon zu positiven Effekten gekommen. Auch die Sportartikel- und Werbebranchen sowie Gastronomie und Hotellerie berichten über positive Effekte.
Aber es war nicht so, dass die riesige Menge an Menschen, die zum Fußball gekommen ist, sich dort so massiv an den Umsätzen beteiligt hätte, dass es dadurch zu gesamtwirtschaftlichen Effekten gekommen wäre. Gut, einige Fangruppen sind ja als Bierkonsumenten so in Erscheinung getreten, dass sie die Gastronomie „leergetrunken“ haben. Trotzdem sind diese Events für die Attraktivität und die Popularität von Regionen von erheblicher Bedeutung. Und vielleicht gibt es ja auch gemeinschaftsstiftende Effekte und Imagefaktoren wie „Weltoffenheit“ und „interkulturelle Toleranz“.
Kann man etwas darüber sagen, wo das Rheinland an freizeitwirtschaftlich im deutschlandweiten Vergleich steht?
Man weiß zumindest etwas über bestimmte Orte und Besucherzahlen. Der Kölner Dom ist nach wie vor die Touristenattraktion schlechthin. Das gilt auch für den Loreleyfelsen oder Städte wie Heidelberg. Das sind Beispiele, die man als Tourist gesehen haben muss. Das Rheinland hat vielfältige Freizeitmöglichkeiten für alle Bevölkerungsgruppen zu bieten und ist deshalb total attraktiv.