Kiel/Köln – Der Fußball schreibt seine eigenen Geschichten. Deshalb kann es vorkommen, dass eine Mannschaft zehn Minuten vor dem Abpfiff 4:1 führt und die Anspannung trotzdem nicht nachlassen möchte. Wahrscheinlich hat es etwas damit zu tun hat, dass diese Geschichte zum 1. FC Köln gehört. Der Club, bei dem alles möglich ist. Selbst, im wichtigsten Saisonspiel einen solchen Vorsprung gegen einen erschöpft und willenlos am Boden liegenden Gegner wieder herzuschenken. Erst als Ellyes Skhiri also in der 84. Minute des Rückspiels der Fußball-Bundesliga-Relegation eine Vorarbeit von Jan Thielmann ins Tor von Zweitligist Holstein Kiel setzte, brachen alle Dämme.
Der gesamte FC-Tross sprintete in Richtung Eckfahne, um vor 2334 Zuschauern mit Skhiri die große Erleichterung zu feiern. Und auf der sonnenüberfluteten Tribüne des Holstein-Stadions jubelte der FC-Vorstand um Präsident Dr. Werner Wolf mit Geschäftsführer Alexander Wehrle um die Wette. Der FC hatte es tatsächlich geschafft, das 0:1 aus dem Hinspiel am Mittwoch mit einem furiosen 5:1 (4:1)-Auswärtssieg am Samstag umzubiegen und im allerletzten Spiel der Saison die Erstliga-Zugehörigkeit zu sichern.
Schöne Geschichten
Dieser 29. Mai 2021 erzählte für den FC bei seiner Relegationspremiere nur die schönen Geschichten. Etwa die von Trainer Friedhelm Funkel, der in seinem 924. und letzten Spiel auf der Bank eines Profi-Clubs als Nachfolger des unglücklichen Markus Gisdol seine siebenwöchige Retter-Mission erfolgreich vollendete. Oder die von Ellyes Skhiri, denn niemand Passenderes hätte das erlösende Tor zum 5:1 erzielen können. So verdient war dieser krönende Abschluss für den Tunesier in seinem wahrscheinlich letzten Spiel für die Kölner. Das Laufwunder war in einer komplizierten Saison die verlässliche Konstante der Kölner und trug in Abwesenheit von Kapitän Jonas Hector die größte Verantwortung auf seinen Schultern. Eine Last, die er als Sechser lange beeindruckend stemmte, unter anderem mit sechs Toren. Erst in den Spielen gegen Freiburg und Hertha BSC sowie im Hinspiel gegen Kiel hatte der 26-Jährige zu kämpfen. Womöglich, weil er als kommender Millionen-Transfer dem FC auch über den Sommer hinaus auf finanzieller Ebene stützen soll.
Der finale Akt von Kiel stützte auch die Einschätzungen von Sportchef Horst Heldt und Funkel-Vorgänger Markus Gisdol, was für den FC möglich gewesen wäre, wenn den Kölnern nicht über einen Großteil der Spielzeit ihre prägende Achse weggebrochen wäre und sie es stattdessen mit einer Reihe von Sorgenkindern zu tun hatten. Angefangen bei Torjäger Sebastian Andersson, der in der atemberaubenden Anfangsviertelstunde mit seinen Kopfballtreffern zum 2:1 (6.) und 3:1 (13.) die Kieler Hoffnungen nach dem 1:1 durch Jae Sung Lee (4.) eiskalt beantwortete und so den Weg zum Klassenerhalt ebnete.
Der 29-Jährige demonstrierte seine ganze Klasse im Abschluss, obwohl er sich nicht hundertprozentig richtig bewegen konnte. Der Schwede fehlte aufgrund seiner Knie-Problematik nahezu die gesamte Saison über und konnte am Ende unter Funkel nur dosiert eingesetzt werden. „Er hat gezeigt, was er für ein Torjäger ist. Wenn er öfter in dieser Saison hätte spielen können, wäre der FC nicht in diese Situation gekommen“, adelte der FC-Coach seine Nummer Neun.
Bei Vorbereitung schwer verletzt
Das Gleiche hätte der 67-Jährige über Florian Kainz sagen können. Der Österreicher hatte sich schon in der Vorbereitung schwer verletzt und war nach einer Knie-OP bis April ausgefallen. In Kiel bereitete er nun beide Treffer von Andersson mit wuchtig-präzisen Flanken vor und stellte die Holstein-Defensive am linken Flügel permanent vor unlösbare Probleme. Funkel hatte Kainz offensichtlich angestachelt, indem er ihn im Hinspiel eine Pause verordnete.
Der 28-Jährige wandelte seinen Ärger in positive Energie um und hatte so riesigen Anteil am beeindruckenden Triumph.Der letzte in der Aufzählung der größten Helden von Kiel soll Jonas Hector sein. Obwohl der Kapitän als Anführer dieser Mannschaft an erster Stelle genannt werden müsste. Der erst am Donnerstag 31 Jahre alt gewordene Saarländer hatte sich im Hinspiel als falsche Neun noch aufreiben müssen. Im Rückspiel blühte er als Achter neben Ondrej Duda auf und eröffnete die Stunde der Kölner Sorgenkinder, als er eine Flanke des Slowaken früh mit einem sagenhaften Kopfball ins lange Eck beförderte (3.). Als die Gastgeber frenetisch angefeuert von ihren 2334 Fans dann gerade anfingen einen Weg zurück ins Spiel zu finden, war es Hector einen weiten Ball von Jannes Horn für Rafael Czichos auf, der von der Strafraumkante aus traumhaft mit links einschoss (39.).
Hector ist der beste, vielseitigste und intelligenteste Fußballer in dieser Mannschaft. Und welch gute, zugewandte Interviews er geben kann, wenn die Fragen inhaltlich ansprechend sind, zeigte er als Zugabe nach dem Spiel.Das 4:1 des Ex-Holstein-Kapitäns Czichos bei seiner ersten Rückkehr nach drei Jahren an die alte Wirkungsstätte zog dem Zweitligisten endgültig den Stecker und passte so wunderbar in die Geschichte dieses sonnig-freundlichen Frühlingsabend an der Förde. Genauso wie die wichtigen Auswechslungen von Friedhelm Funkel zur Pause und der souveräne Auftritt von Deniz Aytekin. Wenn Deutschland mehr solcher Schiedsrichter hätte, würde es weniger Diskussionen um diesen Berufsstand geben. Vielleicht hätte sich der FC dann sogar früher gerettet und nicht bis zum 5:1 von Ellyes Skhiri warten müssen. Holstein Kiel: Gelios; Neumann, Wahl, Lorenz (46. Mees), Komenda (63. Kirkeskov); Meffert; Mühling, Porath (46. Girth), Lee; Bartels, Reese (80. Awuku). – 1. FC Köln: T. Horn; Ehizibue, Bornauw (46. Meré), Czichos, J. Horn (46. Jakobs); Skhiri; Wolf (73. Thielmann), Duda (63. Meyer), Hector, Kainz; Andersson (76. Drexler). – SR.: Aytekin (Oberasbach). –Zuschauer: 2350. – Tore: 0:1 Hector (3.), 1:1 Lee (4.), 1:2 Andersson (6.), 1:3 Andersson (13.), 1:4 Czichos (39.), 1:5 Skhiri (84.). – Gelbe Karten: Porath; Bornauw, J. Horn, T. Horn.