Andreas Rettigs Position zur umstrittensten Fußball-WM der Geschichte in Katar ist eindeutig: Sie ist ein Skandal, den man hätte vermeiden müssen. Christoph Fischer sprach mit dem Ex-Geschäftsführer von Viktoria Köln über Turniervergaben, Funktionäre und Perspektiven.
Zur Person
Andreas Rettig (59), geboren in Leverkusen, spielte einst für den FV Bad Honnef, Viktoria Köln , den SC Brück und den Wuppertaler SV. Von 1989 bis 1998 arbeitete er für Bayer Leverkusen in verschiedenen Positionen, später für den SC Freiburg, den 1. FC Köln und den FC Augsburg als Manager. Von 2013 bis 2015 war er Geschäftsführer der Deutschen Fußball-Liga.
Herr Rettig, Uli Hoeneß bezeichnete Sie jüngst als den „König der Scheinheiligkeit“. Bemerkenswert angesichts der Tatsache, dass Katar das Diskussionsthema war.
Korrekt. Der FC Bayern kooperiert eng mit Katar, logisch, dass Herrn Hoeneß die Kritik an seinen Sponsoren nicht passt. Aber auch der FC Bayern und Hoeneß können der Debatte nicht ausweichen, die Menschenrechtsverletzungen sind lange bekannt, die Vergabe der WM an Katar ist und bleibt ein Skandal.
Kapitaler Fehler wurde bereits 2010 gemacht
Nur noch acht Wochen bis zum umstrittensten Turnier der Geschichte. Zu verhindern ist es nicht mehr.
Nein, aber man muss daran erinnern, dass der kapitale Fehler nicht jetzt gemacht worden ist, sondern 2010, als 22 größtenteils mit eigenen Interessen ausgestattete Fußball-Funktionäre die wahnwitzige Entscheidung getroffen haben, 2022 eine Weltmeisterschaft in Katar auszutragen. 14 von 22 Funktionären haben zugestimmt, eine Weltmeisterschaft bei bis zu 50 Grad Celsius auszutragen. Man kann bei diesen Temperaturen nicht Fußball spielen, das wusste man auch damals. Das war respekt- und verantwortungslos allen Spielern, allen Schiedsrichtern und allen Fans gegenüber.
Was können kritische Menschen noch tun?
Aktuell ist es wichtig, Zeichen zu setzen. Gerade wir, die wir eine Vergangenheit haben, wie man sich bei und mit WM präsentiert. Der Super-GAU 1978 in Argentinien ist nicht nur mir noch in Erinnerung, als die Führung des Deutschen Fußball-Bundes nationalsozialistischen Führungsfiguren die Türen des Mannschaftsquartiers öffnete. Damals sagte ein renommierter deutscher Nationalspieler angesichts von Zehntausenden von verschwundenen Regimekritikern der Militärdiktatur in Argentinien, er habe keine Gefangenen gesehen. Andere Vertreter der Gilde haben in Katar keine Sklaven gesehen. Was ich sagen will: Wir müssen unsere Stimme erheben, was wir von diesem Turnier halten. Diese WM muss das größte denkbare PR-Desaster für Katar werden.
Nationalspielern nicht zu viel abverlangen
Boykottieren Sie selbst die Übertragungen?
Ich werde meinen Katar-Konsum auf ein Minimum beschränken, befürchte aber, dass mich meine Fußballleidenschaft zur Unvernunft treiben wird. Die deutschen Spiele werde ich anschauen.
Welche Reaktionen erwarten Sie von den deutschen Nationalspielern?
Wir dürfen den Nationalspielern nicht zu viel abverlangen. Man darf aber erwarten, dass sie eine klare Meinung haben, es geht um Symbolik, wir brauchen Bilder, die haften bleiben. Meine romantische, zugegeben eher naive Vorstellung, ist die, das Spieler nicht im Kaffee rühren oder am Daumen nuckeln nach einem Tor, sondern im Jubel Formen des Protestes finden. Am Ende ist entscheidend, wie die Verbandsführung mit dieser WM umgeht. Ich erwarte klare politische Statements, DFB-Präsident Bernd Neuendorf hat sich positioniert zum Engagement des FC Bayern in Katar, auch seine Forderung nach einem Fonds für Baustellenopfer durch die Fifa geht in die richtige Richtung.
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Kann man solche Vergaben zukünftig verhindern?
Wir brauchen in den Führungen der Verbände konsequent denkendes Personal. Wenn wir glauben, mit der Vergabe an Katar am tiefsten Tiefpunkt angekommen zu sein, wie Ex-Teamchef Rudi Völler in anderen Zusammenhängen gesagt hat, glaube ich, dass der Tiefpunkt der Entwicklung noch nicht erreicht ist. Ich hoffe nicht, dass Gianni Infantino demnächst von seinem aktuellen Wohnsitz Doha nach Riad umziehen muss, wenn das Turnier in Saudi-Arabien stattfinden sollte. In Katar gibt es mehr teilnehmende Nationen als Fußballplätze im Land, 32 Nationen sind dabei, demnächst werden es 48 sein. Immer wenn es in die Nähe von Wahlen oder Vergabeentscheidungen in der Fifa geht, gibt es mehr Teilnehmer und mehr Geld für die Verbände. Das ist die Realität, die einschneidende Veränderungen verhindert.
Sehen Sie Chancen für Veränderungen?
Die Doppelvergabe 2018 und 2022 war der letzte Sündenfall, das wird sich in dieser Form nicht wiederholen. Die Exekutive trifft keine Vergabeentscheidung mehr allein, sondern alle Mitglieder. Vergabeentscheidungen werden nicht mehr getroffen werden können ohne Sicherstellung eines Mindeststandards an Menschenrechten.
Hätte ein Boykott eine reelle Chance gehabt?
Die Messe ist lange gelesen. Der Vergabeprozess ist der Schlüssel, eine Bewerbung hätte erst gar nicht zugelassen werden dürfen, da die Menschenrechtsverletzungen in Katar lange bekannt waren.