Gerd Müllers GeburtstagDer „Bomber der Nation“ wird 75 – überschattet von Demenz
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Bonn – Es muss eine besondere Magie in diesen Herbsttagen liegen. Eine, die den in dieser Zeit geborenen Kindern eine Gabe schenkt, die anderen vorenthalten bleibt. Wie anders ist es zu erklären, dass gleich vier der bedeutendsten Fußballer der Geschichte in einem kurzen Zeitraum ab Ende Oktober das Licht der Welt erblickten? Brasiliens Jahrhundertspieler Pelé feierte am 23. Oktober seinen 80. Geburtstag, sein argentinisches Pendant Diego Armando Maradona wurde am vergangenen Freitag 60. Am Samstag folgte Deutschlands 54er-Weltmeister und Ehrenspielführer Fritz Walter, der 100 Jahre alt geworden wäre, und nun, an diesem Dienstag, ist Gerd Müller an der Reihe: Der „Bomber der Nation“ wird 75.
Es wird ein stilles und irgendwie auch trauriges Jubiläum sein, was weniger an der Corona-Pandemie, als an Müllers Gesundheitszustand liegt. Der frühere Ausnahme-Mittelstürmer leidet an Alzheimer, lebt seit fast sechs Jahren in einem Pflegeheim. Ob und wie gut er sich noch an seine Taten in der Vergangenheit erinnern kann, ist ungewiss. In der Öffentlichkeit tun das besonders in diesen Tagen aber seine ehemaligen Mitstreiter und Freunde. Sie versuchen mit Worten etwas zu ergründen, das unerklärlich erscheint: das Torjäger-Genie Gerd Müller.
Sein einstiger Teamkollege Paul Breitner wagt einen Versuch: „Gerd Müller wäre heute Messi, Ronaldo und noch ein paar zusammen“, meint der 74er-Weltmeister. Franz Beckenbauer, Müllers langjähriger Zimmerkollege und gefürchteter Doppelpass-Partner, geht mit seinem Deutungsversuch in eine ähnliche Richtung. „Was der FC Bayern heute darstellt, mit diesem Palast an der Säbener Straße – ohne Gerd Müller wären die Leute da immer noch in dieser Holzhütte von damals“, sagte der „Kaiser“ einmal. Worte, die der Hochgelobte so niemals über sich selbst gesprochen hätte. Sein Erfolgsrezept beschrieb Müller sehr banal: „Als Mittelstürmer musst du wissen, wo das Tor steht. Das habe ich gewusst!“
Und vielleicht hatte ja auch Mutters geliebter Kartoffelsalat seinen Anteil an der Treffsicherheit des Mannes aus Nördlingen. Dass es dem Angreifer offensichtlich schmeckte, registrierten seine Kollegen jedenfalls schon kurz nach seiner Ankunft beim FC Bayern im Jahr 1964. Mit einer ordentlichen Portion Spott empfingen sie den Neuen angesichts seiner gedrungenen Statur. „Als ich ihn zum ersten Mal gesehen habe, habe ich gedacht: Jetzt kommt ein Quadrat“, erinnert sich Beckenbauer, und Trainer „Tschik“ Čajkovski verpasste dem Stürmer einen Spitznamen, der bis heute in seiner grammatikalischen Unkorrektheit bekannt geblieben ist: „kleines, dickes Müller“.
Doch was das Quadrat im gegnerischen Sechzehner-Viereck anstellte, nötigte den Spöttern schnell Respekt ab. Ob mit dem linken oder dem rechten Fuß, dem Kopf, Knie oder der Brust, ob im Stehen, Fallen, Sitzen oder Liegen – Gerd ließ es kräftig „müllern“, er war 1,76 Meter personifizierte Torgefahr. Bis seine Gegenspieler eine Situation erfasst hatten, lag der Ball meistens schon im Tor und Schütze Müller hüpfte jubelnd umher. 365 Mal lief es so oder so ähnlich in seiner 14-jährigen Bundesliga-Zeit ab – eine Marke, die als unerreichbar gilt, auch wenn sich einer seiner Nachfolger im Bayern-Trikot, der Pole Robert Lewandowski, seit Jahren alle Mühe gibt. Hinzu kommen bei Müller 68 Treffer in gerade einmal 62 Einsätzen für die deutsche Nationalmannschaft. Mit solchen Zahlen hatten wohl selbst die größten Optimisten nicht gerechnet, als der FC Bayern vor mehr als 56 Jahren 4400 Mark Ablöse für den jungen Stürmer an den TSV 1861 Nördlingen gezahlt hatte.
Heute sind sich die Münchner Granden einig, dass Müller den größten Anteil am Aufstieg des Clubs hat, mehr noch als Beckenbauer. Doch anders als der Zimmerkollege konnte der Stürmer Erfolg und Ruhm zunächst nicht gewinnbringend nach der aktiven Zeit nutzen. Das Karriereende beförderte ihn in ein Loch, in dem er dem Alkohol verfiel. Es waren schließlich die alten Teamkollegen, allen voran Sturmpartner Uli Hoeneß, die das wankende Idol dazu zwangen, sich dem flüssigen Gegner zu widersetzen.
Dass Müller dieses Duell durch eine Entzugskur gewann, ist sein wohl größter Erfolg – mehr noch, als der durch sein Siegtor errungene Weltmeistertitel 1974 oder die Glanzleistungen mit dem FC Bayern. Nun aber hat das Torjäger-Genie erneut einen Gegner, der sich nicht mit einer schnellen Drehung austricksen lässt. Gerd Müllers persönliche Erinnerungen mögen zunehmend verblassen, die der anderen an ihn bleiben.