Veedels-CheckWie Neubrück vom Musterschüler zum Sorgenkind wurde
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Köln-Ossendorf – Hält man im Jahr 2018 zusammen in den Veedeln? Gibt es sie noch, die typisch kölschen Veedel? Mehr als 30.000 Kölner haben sich an unserer nicht repräsentativen Umfrage beteiligt und Noten für Ihre Stadtteile verteilt. Alle 14 Tage veröffentlichen wir die Ergebnisse von fünf weiteren Veedeln.
Wo heute klobige Hochhäuser auf beschauliche Reihenhausbauten treffen, zog sich vor 50 Jahren noch das Rollfeld eines Militärflugplatzes durch die Landschaft. „Die fortschrittlichste Siedlung Deutschlands, vielleicht sogar der ganzen Welt“, wollte der damalige Kanzler Konrad Adenauer aus Neubrück machen – die heterogene Bauweise des Stadtteils galt als wegweisend. Heute rümpft so mancher beim Gedanken an das rechtsrheinische Viertel die Nase. Was also ist geworden aus Adenauers Versprechen?
Die Sonnenstrahlen fallen an diesem Morgen auf Hochhäuser und Bäume auf dem Marktplatz und beleuchten den Wochenmarkt in dessen Mitte. Es riecht nach Käse, frischem Fisch, und nach Rosen und Tulpen aus Richtung des Blumenstandes. Die Händler hier kommen aus ganz Köln und darüber hinaus, die Besucher ebenso. Denn der Wochenmarkt in Neubrück ist einer der wenigen im gesamten rechtsrheinischen Stadtgebiet – und nicht nur deshalb eine Institution. „Das ist schlichtweg der Dreh- und Angelpunkt in unserem Viertel“, sagt die 87-jährige Paula Hiertz, die selbst jeden Donnerstag über den von Geschäften und Plattenbauten eingerahmten Marktplatz schlendert.
„Hier trifft, kennt und hilft man sich, denn der Neubrücker ist eher ein Dorfmensch als ein Großstädter.“ In Neubrück ist Hiertz neben dem Wochenmarkt die wohl zweite Institution. 1970 war sie eine der ersten, die in die gerade erst aus dem Boden gestampfte Siedlung einzogen und sich seit der ersten Stunde engagierten. Hiertz tat es als Regisseurin des Heimattheaters, als Leiterin der Akkordeongruppe, im Karneval. Und sie tat es aus Überzeugung. „Denn nirgendwo sonst wurde damals so viel geboten“, meint sie. „Es gab sehr viele Kinder und junge Menschen, zwei Grundschulen, eine Hauptschule, sehr viele Kindergärten und Engagement der Bürger vom ersten Tag an.“
Heute ist eine Hauptschule und eine Handvoll Kindergärten übrig geblieben, und die Straße von Hiertz, wo früher über 70 Kinder lebten, nennen die Anwohner heute scherzhaft die „Witwenstraße“ – leben hier doch so viele betagte Damen über 80 wie noch nie. Ja, die Zeiten haben sich geändert in Neubrück, sagt Hiertz.
Inzwischen hat sie viele ihrer Ämter niedergelegt, gibt in ihrem Wintergarten dafür noch Lesungen aus ihren Autobiografien, Gedichtsammlungen und Heimatbüchern. Ihre Heimat – das ist Neubrück, ihr Reihenhaus, ihr kleiner Garten mit dem Gartenhaus und dem Pflaumenbaum. Zwischen seinen Ästen sieht man die Flugzeuge im Landeanflug auf Porz und die Flachdächer der Hochhäuser.
Da ist sie: Die Heterogenität, die Adenauer bei der Grundsteinlegung des Viertels zum Erfolgsrezept erklärt hatte. „Diese Heterogenität ist heute fast schon ein Fluch“, meint Hiertz, die in der Nähe des Heumarkts aufwuchs und dort auch heute noch Stadtführungen macht. Zwar sei das Viertel mit seinen Bungalows und Reihenhäuschen im Westen und Hochhäusern im Osten „vom Aufbau auch heute noch toll“, das Konzept des Zusammenlebens verschiedener gesellschaftlicher Schichten aber gehe kaum noch auf.
„Heute ist so etwas bei uns schwierig geworden – die Menschen bleiben unter sich“, meint die Ur-Neubrückerin. Fragt man sie also, wie viel übergeblieben ist von der Vision Adenauers, überlegt sie einen Moment – und erzählt dann, dass ihr Veedel heute dreckiger ist als früher, das Zusammenleben einfach nicht mehr so schön wie noch vor Jahren, dass immer mehr Menschen sich nicht mehr engagieren in der Gemeinschaft und wie sehr sie sich trotzdem ärgert, wenn Außenstehende schlecht über Neubrück reden.
„Wir haben ja keine Probleme, die andere Viertel nicht auch hätten“, sagt sie – und nicht nur deshalb könne sie sich niemals vorstellen, wegzuziehen. „Hier ist eben alles ruhiger als im Inneren der Großstadt, hier kann ich relaxen und die Füße hochlegen.“
Vielleicht auch deshalb ist der Marktplatz auch dann, wenn nicht Wochenmarkt ist, so gut besucht – und das Treiben dort gleichzeitig doch so unaufgeregt. Jungs bolzen vor den Ladeneingängen, Mütter spielen mit ihren Kindern, Männer sitzen pfeiferauchend vor einem Döner-Imbiss. Was ein Passant zwinkernd als das „Flair Klein-Istanbuls“ bezeichnet, gehört in Neubrück inzwischen zur DNA. Vielen hier gefällt genau das, andere beschweren sich über einen steigenden Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund im Viertel, über Leerstand und zu wenige Einkaufsmöglichkeiten oder über das Gefühl, sich hier nicht sicher zu fühlen. Von ihren Sorgen weiß Martin Schmitz, der seit Jahren auf dem Wochenmarkt Kleidung verkauft: „Der Markt hier ist den Menschen extrem wichtig – auch als Begegnungsstätte“, sagt der Sülzer.
„Ich höre immer, dass die Menschen gerade gerne kommen, wenn hier Wochenmarkt ist – es hier aber abends, wenn es dunkel wird, der Horror sein soll, und sich die Menschen teilweise nicht mehr vor die Tür trauen.“ Vom Gefühl, vernachlässigt zu werden, hört er hier oft. Vernachlässigt von der Stadt, missachtet von vielen Kölnern. Von negativen Gedanken ans eigene Veedel weiß auch eine Frau, die ihren Stand jede Woche ein paar Meter entfernt aufgebaut hat – und kann sie nachvollziehen.
Den Ruf von Neubrück aufwerten
Sylvia Schrage ist die Vorsitzende des Neubrücker Bürgervereins. Sie ist umtriebig, hat mit ihren Mitstreitern gerade erst eine Kampagne gestartet, um den Ruf Neubrücks aufzuwerten, organisiert Picknicks für das ganze Viertel auf dem Marktplatz, plant Garagenflohmärkte und wohnt gerne hier: „Trotz unserer Probleme ärgert mich der Ruf Neubrücks deshalb total“, meint sie. „Das Viertel bietet schließlich sehr viel Lebenswertes.“ Wer hier hinzieht, der sucht keine Partylocation, sondern seine Ruhe – und findet sie, abgesehen vom Fluglärm auch: Eine weiträumige Tempo-30-Zone in großen Teilen des Viertels, eine große Fußgängerzone, der Marktplatz fast so groß wie der Rudolfplatz. Eine Frau aus Sri Lanka kommt hier gerade vorbei, mit ihr tauscht Schrage Dokumente und ein paar Worte auf Englisch aus.
Eine Moschee fehlt bisher
Die Vereinsvorsitzende hat ihr hier eine günstige Wohnung besorgt. „Der hohe Migrationsanteil ist bei uns aber schon auch ein Problem, weil es oft nicht harmoniert“, sagt Schrage und verweist dabei zum Beispiel auf eine bisher fehlende Moschee. „Wir müssen da noch weiter zusammenwachsen.“ Ist er also gescheitert – der Traum Adenauers vom Zusammenleben der Unterschiede? „Wenn eine Stadt auf dem Reißbrett gebaut wird, hat das seine Vorteile und seine Nachteile“, sagt Schrage. Doch ihr sei egal, wie schön und teuer die Häuser sind, in denen die Neubrücker wohnen. „Wichtig sind die Menschen, die in ihnen leben: Wie sehr sie aufeinander achten, entscheidet am Ende über die Lebensqualität.“
Die größten Baustellen in Neubrück
Eine Flüchtlingsunterkunft beherbergt Neubrück, einige weitere grenzen an das Veedel. Wegen des niedrigen Mietzinses bleiben viele Flüchtlinge auch nach ihrer Anerkennung in Neubrück – und mit ihnen unter Umständen auch so manches Problem beim Zurechtfinden in der neuen Heimat. Trotzdem: Einen Sozialarbeiter, der betreuen und unterstützen könnte, gibt es nicht. „Die Stadt macht gar nichts. Dabei haben wir schon mehrmals angefragt“, sagt Sylvia Schrage, Vorsitzende des Neubrücker Bürgervereins. Ebenfalls, so Schrage, habe ihr Verein schon mit der Stadt diskutiert, wie es gelingen könnte, einen zweiten Supermarkt ins Viertel zu holen. Passiert ist bisher nichts. Ein Discounter für fast 9000 Menschen? Unzureichend, meinen hier nach wie vor viele Bürger. „An bestimmten Tagen ist schon mittags alles leergekauft“, sagt Schrage. „Manche müssen ihre Einkäufe dann zu Fuß aus Merheim oder Ostheim hertragen.“
Die Geschichte von Neubrück
Weil die Stadt Köln in den 50er-Jahren mehr Wohnraum für Industrie- und Verwaltungsmitarbeiter sowie Heimatvertriebene brauchte, beschloss der Stadtrat den Bau einer neuen Wohnsiedlung auf dem ehemaligen Rollfeld des von den Nazis genutzten Fliegerhorstes Ostheim auf dem Gelände der heutigen Kliniken. Früh war klar, dass Neubrück besonders werden soll – in Aufbau und Bevölkerungsstruktur. So nannte der damalige Bundeskanzler Konrad Adenauer die unter dem Motto „Licht, Freiräume und viel Grün“ mit 592 Einfamilienhäusern und 2280 Mietwohnungen in vier- bis sechsgeschossigen Häusern aus dem Boden gestampfte Siedlung „die fortschrittlichste Deutschlands“ und freute sich über die Pläne, das Viertel Adenauer-Siedlung zu nennen: „Mir kann man kein größeres Geschenk machen, als diese Siedlung nach mir zu benennen“, sagte er im August 1965 bei der Grundsteinlegung des Stadtteils. Während neue Wohnstraßen bebaut wurden und weitere Nachbarn zuzogen, kam der Ausbau der Infrastruktur nur schleppend voran. Zunächst musste man zum Einkaufen nach Brück laufen. Aber bald gab es in einer Baracke am Europaring einen „Konsum-Laden“ und eine Sparkassenfiliale. Nachdem die Wohnviertel mehr als 25 Jahre als Anhängsel von Brück oder als „Adenauer-Siedlung“ geführt wurden, gelten sie seit dem 14. Dezember 1992 offiziell als eigener Stadtteil Neubrück .