Tränen und WutOpfer von sexuellem Missbrauch organisieren große Kundgebung
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Die Kundgebung thematisiertwas heute statistisch gesehen jedes siebte Kind mitmachen muss - sexueller Missbrauch.
Initiator der Info-Veranstaltung ist Markus Diegmann, der dafür seit Jahren quer durch die Republik tourt.
Auch seine Kindheit und Jugend standen nicht unter einem guten Stern.
Bergisch Gladbach – Alles ist bunt an diesem Samstag auf dem Platz am Busbahnhof: T-Shirts, Plakate, die Kinderschuhe, die zu Demonstrationszwecken auf dem Pflaster stehen und nicht zuletzt die Ballons, die über der Szenerie schweben. „Kindergeburtstag“ kommt einem unweigerlich in den Sinn – eine Assoziation, die ebenso abwegig wie treffend ist.
Sechs Stunden lang wird hier gelacht und geweint, liegen Verständnis und Wut eng beieinander, wenn Erwachsene thematisieren, wie sie immer wieder versuchen, ihr Leben neu zu starten nach dem, was sie einst erlebt haben und was heute statistisch gesehen jedes siebte Kind mitmachen muss: sexueller Missbrauch.
Das Trauma zu überleben ist das Ziel
Dass der nicht verjähren darf, das fordert Markus Diegmann, Initiator der Info-Veranstaltung, der dafür seit Jahren quer durch die Republik tourt. „Was würde mein Patenonkel wohl dazu sagen?“, überlegt der gebürtige Kürtener. Der hieß immerhin Konrad Adenauer und hatte seinerzeit die Ehrenpatenschaft für jedes siebte Kind einer Familie übernommen.
Diegmanns Kindheit und Jugend standen dennoch unter keinem guten Stern. Drei Männer vergingen sich über Jahre hinweg an dem Jungen. Das Trauma zu überleben, ist sein Ziel – verarbeiten kann man so etwas nicht. Noch heute kann er nicht in einer Wohnung leben. Das Wohnmobil ist sein Zuhause, und seinen Picasso hat er immer dabei. Der Australian Shepherd Rüde ist auch offiziell Therapiehund.
Fast ein Vierteljahrhundert hat Diegmann seine acht Geschwister nicht gesehen; sein Bruder Peter unterstützt ihn heute. Was dem Markus widerfahren ist, warum er die Familie verlassen hat, das sei nie thematisiert worden, erzählt er.
„Wir sind völlig allein damit“, bekundet eine Betroffene unter Tränen auf der Bühne und fordert zugleich „lebenslang für Seelenmord“. Aktivistin Sitha spricht von „schwersten Menschenrechtsverletzungen“, die eine Schande für das ganze Land seien. „Seelen kann man nicht kleben“ steht auf T-Shirts und Plakaten. Gegen Rassismus stehe die ganze Welt auf, klagt ein Redner, aber die Petition zur Abschaffung der Verjährungsfrist hätten nicht mal 500 000 Menschen unterschrieben.
Der Verein
„Tour 41“ ist ein eingetragener Verein mit Sitz in Kürten und verweist in seinem Namen darauf, dass in Deutschland täglich 41 Fälle von Kindesmissbrauch angezeigt werden. Schätzungen gehen davon aus, dass die Dunkelziffer etwa 20 mal so hoch ist. „Statistisch gesehen ist jeder Siebte betroffen. In jeder Schulklasse sitzen ein bis zwei Kinder“, informieren die Ehrenamtler.
Fast vier Jahre lang ist Initiator Markus Diegmann mit einem Wohnmobil durch Deutschland getourt, hat Infoarbeit geleistet, Unterstützer gewonnen, 7000 Betroffene kennengelernt und fast 500 000 Unterschriften für die Abschaffung der Verjährungsfrist gesammelt, die er Ende Juni Bundesjustizministerin Christine Lambrecht übergeben hat.
Ab Herbst will „Tour41“ Seminare zur Entwicklung von Schutzkonzepten und Präventionscoaching anbieten. Für den Ausbau des Angebots werden noch Förderer gesucht, die den Unterhalt der Räumlichkeiten sowie die Einstellung einer Ganztagskraft ermöglichen. (kme)
www.tour41.net
„Müsst Ihr erst missbrauchte Kinder sehen, um zu reagieren?“ schreit er seine Wut heraus. „Es tut einem in der Seele weh, die eigene Stadt so in den Schlagzeilen zu sehen“, bekennt Christian Buchen angesichts der jüngst erfolgten Aufdeckung eines pädophilen Netzwerks. Der Sumpf sei tief, die Gesellschaft müsse sich dem Thema stellen, fordert der Bürgermeisterkandidat der CDU und fügt sogleich an, eine solche Veranstaltung eigne sich nicht für den Wahlkampf.
Fragen an: Dem Kind wird nicht geglaubt
Marianne K. (55) ist schon als Kind von vier Jahren in der Familie missbraucht worden. Den Übergriffen war sie noch als junge Erwachsene ausgesetzt. Für die Aktion in Bergisch Gladbach ist die Sozialarbeiterin eigens aus Mannheim angereist. Karin M. Erdtmann sprach mit ihr.
Wie verarbeiten Sie Ihr Martyrium?
Mit Mitte 20 habe ich angefangen, das aufzuarbeiten, bin seit 30 Jahren in Therapie und suche mir auf mehreren Ebenen Hilfe. Mittlerweile habe ich zwei Mittelklassewagen in meine Heilung gesteckt. Ich habe eine Teilpersönlichkeit entwickelt, um weiterleben und Beziehungen eingehen zu können.
Warum ist es so schwer, Menschen für das Thema zu sensibilisieren und Hilfe zu bekommen?
Es ist ein Tabubereich. Wenn ich mich irgendwo einschalte, den Verwandten oder den Chorleiter verdächtige, dann wird das eigene Leben unbequem. Da schaut man lieber nicht genauer hin und hält sich raus.
Fühlen sich die Täter deswegen so sicher?
Die Kleinen kriegt man ganz gut, aber die gesellschaftlich Angesehenen nur schwer. Die Täter sind oft manipulativ, zuweilen hoch kompetent und setzen sich offensiv gegen die Vorwürfe zur Wehr. Dem Kind wird dann nicht geglaubt.
Auch Mitwisser müssten bestraft werden, fordert eine Aktivistin, während Markus Diegmann die Arbeit der Polizei lobt: „Wir haben hier die besten Ermittler.“
Fast fünf Stunden war Irmi Wetter mit ihrer „Konstanzer Puppenbühne“ unterwegs. Buchstäblich auf Samtpfoten betreibt die Puppenspielerin Präventionsarbeit. „Pfoten weg!“ lehrt Familie Katze ihre Kinder, auf der Bühne, im Bilderbuch und auf DVD. Den längsten Anfahrtsweg hatten die Wiener Sängerin Morgaine und ihr Freund Äon. „Welche seelischen Wunden Missbrauch hinterlässt, habe ich erfahren, als ich meine Freundin kennenlernte,“ sagt der Rapper.
Jetzt engagiert auch er sich für die Kürtener Initiative und nahm gleich mehrfach das Mikro in die Hand um seine Message für eine bessere Welt rüberzubringen. „Auch für die Kleinen und Schwachen einzustehen und mit tiefsinnigen Texten die dunklen Seiten des Lebens zu erhellen“ hat sich Morgaine zur Aufgabe gemacht. Ihre Stimme konnte sie wegen einer Stimmbandentzündung allerdings nicht erheben. Kurzfristig absagen musste auch Schauspieler Kai Noll als Moderator des Bühnenprogramms.
Dass kritisches Engagement keine Frage des Alters ist, bewies eine 79 Jahre alte Bergisch Gladbacherin. Die studierte Theologin ist überzeugt, dass es in einer Welt ohne Religion und autoritäre Strukturen kaum Missbrauch gäbe. Peter Diegmann freute sich derweil, dass die Resonanz in Gladbach deutlich größer war als in Münster. Und für Irmi Wette steht fest: „Der Markus muss das Bundesverdienstkreuz bekommen.“