Gegen das VergessenAutor schreibt über Euthanasie-Opfer aus dem Kreis Euskirchen
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Nettersheim-Bouderath – Gertrud Robens, Heinrich Nolden, Anton Falkenberg, Lene Mahlberg. Keiner dieser Namen steht auf einem Grabstein. Keine Gedenktafel erinnert an sie. Wie vielen Euthanasie-Opfern der Nationalsozialisten, droht ihnen das Vergessen. Sie sind fast vollständig aus dem Gedächtnis ihrer Familien, ihrer Nachbarn und ihrer Heimatorte getilgt worden. Der Autor Heinz A. Höver hat sie trotzdem nicht aufgegeben. In seinem Buch „Dem Vergessen entreißen – Euthanasie-Opfer aus der Eifel und Voreifel“ arbeitet er das Schicksal dieser Menschen auf.
Zehn Menschen aus Weilerswist, aus Bad Münstereifel und aus Nettersheim widmet Höver sein Buch. Zehn Menschen, die körperlich und geistig behindert oder psychisch krank waren – und den Nationalsozialisten nicht als lebenswert galten. „Als wäre das nicht schon schlimm genug gewesen. Die Euthanasie-Opfer sind danach in der Versenkung verschwunden“, sagt Höver. Für ihn ist das Schweigen der anderen ein mindestens genauso großes Verbrechen wie die Euthanasie selbst.
Deportation nicht als Verbrechen wahrgenommen
Es ist für Höver, als würden diese Menschen ein zweites Mal sterben. „Viele Leute haben die Deportation von Behinderten nicht als Verbrechen wahrgenommen. Auch die eigenen Familien nicht“, sagt er. Während seiner Recherchen stieß der Autor auf Ungeheuerliches. Zeitzeugen, die laut Autor namentlich nicht genannt werden wollen, bestätigten ihm: Einige Familien hätten ihre behinderten Kinder in den Sommermonaten wie Tiere in Ställen gehalten. Behinderte Mädchen, die als Haushälterinnen angestellt waren, seien Freiwild für ihre Arbeitgeber gewesen. „Bis heute ist das ein Tabuthema. Obwohl es viel Leid für die Mädchen bedeutet hat.“
Vier Jahre hat der gebürtige Weilerswister für sein Buch recherchiert. Zuerst sei er einfach losgefahren, sagt Höver. In die Eifel, nach Wien, nach Klagenfurt. Stundenlang habe er in Gedenkstätten und Gemeindearchiven nach Dokumente wie Geburts- und Sterbeurkunden gesucht. Auch durch die Obduktionsberichte der Ärzte des nationalsozialistischen Regimes stöberte der 69-Jährige. Oft gaben diese natürliche Todesursachen für die Euthanasie-Opfer an. Eitrige Bronchitis etwa, Lungenentzündung oder Rippenfelltuberkulose. Höver stieß aber auf auffällige Details in den Krankenakten.
Menschen verhungerten und verwahrlosten
Dort ist von Mangelernährung und Entkräftung die Rede. Der Autor vermutet: Das ist die wahre Todesursache. Ärzte der sogenannten Pflegeanstalten ließen ihre Patienten einfach verhungern und verwahrlosen. „Durch die Pandemie ist die Recherche umfangreicher als geplant geworden. Aber es ist trotzdem unmöglich, diesem Thema in seiner ganzen Breite gerecht zu werden.“ Vor allem in Weilerswist war die Recherche für den Autor schwierig, die Beziehung Hövers zu seiner ehemaligen Heimat ist keine gute (siehe Kasten). „Zu oft musste ich den Eindruck gewinnen, dass hier verschwiegen, gemogelt und ganz frech gelogen wurde.“ Höver lässt wie in seinen anderen Werken auch keine Gelegenheit aus, die katholische Kirche zu kritisieren.
Viele Geistliche hätten geschwiegen, obwohl sie von der Euthanasie gewusst hätten, ist sich der Autor sicher. Einen Pfarrer, der in Weilerswist als Widerständler gilt, will er sogar als Nationalsozialisten entlarvt haben. Als Beleg führt Höver ein Foto an, das den Mann 1934 beim Schützenfest mit Hitlergruß zeigt. Für den Autor ist klar: 1934 wäre dieses Verhalten nicht zu erzwingen gewesen, Der Pfarrer habe der Ideologie nahe stehen müssen. Aber auch ein positives Beispiel aus dem Ortsteil Metternich nennt Höver: den Pfarrer Johannes Laßleben, der nicht selten Entscheidungen getroffen habe, die vielen NSDAP-Parteimitgliedern im Ort missfielen.
Akribisch aufgearbeitet
Akribisch arbeitet Höver in seinem Buch auch den Weg der Euthanasie-Opfer von der Eifel in das Klagenfurter Gaukrankenhaus auf. Bei einigen, wie den Geschwistern Lene und Felix Mahlberg aus Nettersheim, bleiben Zeitpunkt des Verschwindens, Todesursache und -ort aber unklar – selbst nach langer Recherche. Doch um die Todesumstände geht es ihm eigentlich gar nicht. „Ich habe angefangen Bücher zu schreiben, als niemand mehr zu belangen war. Ich bin nicht der verlängerte Arm der Justiz. Mir geht es nur um die moralische Aufarbeitung“, erläutert Höver.
Er wolle den Menschen ihre Namen wiedergeben. „Ein Schuldbekenntnis, ein Bitten um Verzeihung und eine Wiedergutmachung – das ist alles, was ich will.“ Er könne sich vorstellen, dass die Kommunen mit Straßenbenennungen oder Stolpersteinen an die Euthanasie-Opfer erinnern. Auch ein Denkmal auf Gemeindeboden für alle, die in der NS-Zeit ermordet wurden, halte er für sinnvoll. „Behinderte waren durch alle Jahrhunderte ohne Lobby. Es wird Zeit, dass sich das ändert.“
Deshalb hat Höver Menschen wie Lene Mahlberg sein Buch gewidmet. Wie sie gestorben ist, das hat er zwar nicht herausfinden können. Aber er konnte ein paar Anekdoten aus ihren Kindheitstagen sammeln. Auch ihren Namen kennt der Autor nun, genauer: ihren Spitznamen. Der lautete Lottchen.