Er spielt in einer Liga mit Mai Thi Nguyen-Kim und Eckart von Hirschhausen. Wer ihn in Euskirchen erlebte, weiß jetzt auch, warum.
Theater ausverkauftLeon Windscheid erklärte in Euskirchen, was an Angst und Scham gut ist
Holger hat es also erwischt. Die Show im Euskirchener Stadttheater ist wenige Minuten alt, da befindet sich auch schon ein Mikro in der Hand des Mannes in Reihe zwei. Der Mann auf der Bühne hat Gesprächsbedarf. Ob das Holger unangenehm ist? Bestimmt. Doch sorgen muss er sich nicht.
Sein Gesprächspartner ist promovierter Psychologe, also schon aus Passion am Wohlbefinden seines Gegenübers interessiert. Selbst dass Holger jetzt dessen Namen partout nicht einfallen will, obwohl er auf der Eintrittskarte steht, macht nichts. Die Tickets habe nämlich seine Frau besorgt, Holger wurde sozusagen mitgeschleppt.
Nun, Holger kann geholfen werden. Dieser jugendlich wirkende Kumpeltyp da oben heißt Dr. Leon Windscheid. Er trat 2015 erstmals in Erscheinung, als er bei Günther Jauch eine Million gewann. Inzwischen spielt er in der Abteilung Wissenschaftskommunikation in einer Liga mit der Chemikerin Mai Thi Nguyen-Kim oder dem Mediziner Eckart von Hirschhausen.
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Im ZDF moderiert Windscheid Ausgaben von Terra Xplore, sein Buch „Besser fühlen“ klebt seit 150 Wochen in den Top 10 der Spiegel-Bestsellerliste fest.
Bei Günther Jauch gewann Leon Windscheid eine Million Euro
Er macht Podcasts, unter anderem mit Comedian Atze Schröder („Betreutes Fühlen“), und füllt seit Monaten mit seinem Programm „Gute Gefühle“ auch die ganz großen Hallen der Republik. Das Stadttheater ist an diesem Freitag ebenfalls ausverkauft.
Da steht er nun und spricht über Gefühle, davon, dass sie gar nicht so unkontrollierbar seien wie oft gedacht. Er zeichnet den Weg im Körper vom Reiz (Trigger) hin zur Reaktion (Gefühl) auf, der aber von Prägungen gesäumt ist: etwa durch die Gesellschaft.
Dann fragt er das Publikum unter anderem, wer schon mal fremd gegangen sei (einige stehen tatsächlich auf), oder wer sich schön fände (hier stehen schon einige mehr auf). Es wird viel gelacht. „Euskirchen, ihr seid alle schön“, beruhigt Windscheid die Sitzenbleiber.
Achterbahn der Gefühle für 770 Besucher im Stadttheater Euskirchen
Denn wer, bitteschön, bestimmt, was schön ist? Viel zu oft die Anderen. Sie können als Gesellschaft ein gutes Korrektiv für den Einzelnen sein, aber auch der Auslöser von Stress bis hin zu schweren psychologischen Erkrankungen. Werde jemandem nämlich immer wieder eingebläut, dass er oder sie schön, stark und immer gut drauf sein soll, müsse man sich nicht wundern über steigenden Medikamentenmissbrauch bei denen, die irgendwann feststellten: „Ich schaffe das alles nicht mehr“.
Wie komme es eigentlich, fragt Windscheid, dass die Protagonisten in westlichen Kinderbüchern zumeist als energiegeladene, hochgefahrene, aufgeregt-strahlend-schöne Helden dargestellt würden, während der Prototyp in der asiatischen Kinderliteratur in sich ruhe?
Das alles hat er nicht selbst entdeckt. Was er hier so locker über die Bühnenrampe bringt, hat sich der gebürtige Bergisch Gladbacher in unzähligen Studien angelesen, nicht ohne deren Machart zu hinterfragen. Zu jeder Aussage erscheint die Quelle auf dem Bildschirm hinter ihm. Fundiertes wissenschaftliches Arbeiten sei ihm wichtig, betont er: „Geschwurbelt mit alternativen Fakten und ohne Belege wird schon genug.“
Leon Windscheid und Atze Schröder machen erfolgreichen Podcast
Per QR-Code können die Besucher sich sogar die Quellenhinweise am nächsten Tag mailen lassen. Es mache ihm Hoffnung, dass so viele Menschen gekommen seien, „die Bock haben, auch mal eine Ecke weiterzudenken“, sagt Windscheid.
Doch zurück zu den gesellschaftlichen Einflüssen auf die Gefühle und die Body-Positivity-Manie in den Sozialen Medien, die schon junge Menschen zum Schönheitsoperateur, zum Psychotherapeuten oder gar nacheinander zu beiden treibt.
„Wir fühlen auch immer durch die Anderen mit“, erläutert Windscheid und übersetzt die Fachsprache der Forscherlegenden, die er interviewt hat, in einfache Bilder: „Würde ein einsamer Mann auf einer einsamen Insel morgens wach werden und denken: ,Ich muss unbedingt nach Istanbul, Haare implantieren lassen?'“. Und keine Frau in derselben Situation käme auf die Idee, sich Silikon spritzen zu lassen.
Das schaffe nur gesellschaftlicher Druck, dem viele Menschen einfach nicht gewachsen seien – mit Folgen, denen wiederum das Gesundheitssystem nicht gewachsen sei. Ausgerechnet Menschen, die keine Energie mehr haben, müssten tagelang Praxen von Psychotherapeuten abtelefonieren, bis sie dann endlich einen Termin erhalten – nicht selten mit 20 Wochen Wartezeit. „Wenn ihr den Menschen helfen könnt, tut es bitte“, appelliert der 35-Jährige, ohne zu predigen: „Wir müssen was für diese Leute tun.“
Warum Angst und Scham auch etwas Positives haben
Solchen ernsten Themen folgen immer wieder sehr witzige Phasen, die aber nie ins Plumpe abdriften. So muss eine Besucherin erfahren, dass sie etwas vorschnell aufgesprungen ist, als die Frage kam, wer sich für intelligenter hält als ein Schimpanse. Ein kleines Video zeigt dann, wie eins der Tiere zehn Zahlen, die nur kurz aufblitzen, per Knopfdruck an die richtige Stelle platziert. Das sorgt für Staunen, aber auch für Demut.
Dafür kann der Mensch halt sprechen. Über Gefühle etwa. Er tut es nach Ansicht Windscheids halt nur zu wenig. Warum frage man so oft „Wie geht's?“, und nicht „Wie ist dein Gefühl?“ Klar, auch diese Frage könnte man mit einem Wort beantworten, ist aber schwieriger, ohne in sich hineinzuhorchen. „Gefühle sind nicht das Problem, nur der Umgang mit ihnen“, so Windscheid.
Und keines sei nur schlecht, und keines nur gut. Dass die rosa Brille irgendwann auch mal beschlägt, mag man im Rausch des Frischverliebtseins nicht sehen (wollen), aber, so Windscheid: „Liebe ist auch der 4386. gemeinsame Tag in der Doppelhaushälfte. Liebe ist nicht nur ein Malediven-Urlaub, sondern auch ein Urlaub im Zelt“ – Kunstpause – „bei Regen“ – Kunstpause – „mit Kindern. “
Und Glück? Er kramt die nächste Studie aus seinem Kopf: „Menschen, die am meisten nach Glück streben, sind oft die Unglücklichsten.“ Wie soll man auch glücklich werden, wenn die Latte so hoch hängt, dass man immer wieder scheitert? Gut könne doch auch gut genug sein.
Warum der große Leon immer noch böse auf den kleinen Leon ist
Doch nicht nur die scheinbar guten Gefühle hätten negative Seiten, sondern die schlechten auch gute: Angst habe schon so manchen flüchtenden Vorfahren vor dem Säbelzahntiger gerettet.
Wut, also „viel Informationen in kurzer Zeit“, verhindere bei dosierter Anwendung, dass man zu viel in sich hineinfresse. Und Scham könne positive Folgen zeitigen, wobei aber eins klar sein müsse, so der Psychologe: „In Deutschland sollte sich im Jahr 2024 niemand mehr wegen seines Körpers oder seiner Sexualität schämen müssen.“
Aber vielleicht für Fehlverhalten, bei dem man erwischt wird. Scham vermeide Wiederholungen, der Fehler sollte dann aber auch verziehen werden: „Wir brauchen nicht weniger Scham in Deutschland, sondern einen anderen Umgang mit Scham.“
An anderer Stelle im Programm präsentiert er dazu ein Beispiel. Ein Familienfilmchen zeigt ihn als kleines Kind, das seinen noch kleineren Bruder vom Dreirad schubst, ihn auf der Erde liegen lässt und danach auch noch eiskalt in die Kamera lächelt. „Was für ein kleines A...loch“, beschimpft der große Leon auf der Bühne den kleinen Leon. Beim Familientreffen habe er sich geschämt. Und er tut's, so scheint's, immer noch.
Doch vielleicht ist es ja genau diese Scham, die ihn heute auf der Bühne zum Menschenfreund werden und demütig den Riesenapplaus am Ende der Show entgegennehmen lässt.