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TeilhabeMenschen mit Handicaps geben in Euskirchen und Kall ihr Wissen weiter

Lesezeit 5 Minuten
Eine Gruppe Menschen hält ein Plakat in die Kamera, auf der in Großbuchstaben Teilhabe steht.

In Sachen Teilhabe hat sich in den letzten 20 Jahren einiges verändert. So bietet die Kokobe etwa die Peerberatung an, bei der Menschen mit Handicap als Ansprechpartner fungieren und ihr Wissen weitergeben.

Die Peer-Beratung ist Beratung auf Augenhöhe: Hier stehen Menschen mit Behinderung anderen Menschen mit Behinderung helfend zur Seite.

Marco Senska kann sich noch gut erinnern, mit welchen Ängsten und Unsicherheiten er zu kämpfen hatte, als er vor elf Jahren aus dem Elternhaus in eine eigene Wohnung zog. „Ich wusste anfangs nicht, ob ich das alles alleine so hinkriege, also selbstständig die Wäsche oder die Wohnung sauber zu machen“, so der 32-Jährige, der mit sieben anderen Menschen mit Behinderung in einem Appartementhaus der Lebenshilfe-Kreisvereinigung Euskirchen lebt. Senska weiter: „Heute versuche ich, anderen Menschen die Angst davor zu nehmen. Und auch deren Eltern.“

Die Beratung ist angegliedert an Lebenshilfe im Kreis Euskirchen

Marco Senska und Rebecca Manderfeld sitzen an diesem Morgen im Besprechungsraum der Lebenshilfe. Sie sind Peer-Berater und arbeiten ehrenamtlich für das Team der Koordinierungs-, Kontakt- und Beratungsstelle für Menschen mit Behinderung, kurz Kokobe. Mit am Tisch sitzen Christian Meyer, Geschäftsführer der Lebenshilfe-Kreisvereinigung, und die drei Kokobe-Fachkräfte Astrid Scheliga, Veronika Tappe und Erik Bosbach.

Sie alle wollen die Klientinnen und Klienten, die sich Rat suchend an die Kokobe wenden, auf dem Weg in die größtmögliche Selbstständigkeit und zu gesellschaftlicher Teilhabe unterstützen.

In den eigenen vier Wänden mit ambulanter Unterstützung leben

Lebten Menschen mit Behinderung im Kreis Euskirchen vor 20 Jahren noch überwiegend bei den Eltern oder in speziellen Einrichtungen, sind es heute 59 Prozent, die mit ambulanter Unterstützung in den eigenen vier Wänden ihren Alltag meistern. Ob allein, als Paar oder in einer Wohngemeinschaft: Im ambulant betreuten Wohnen erhält der Bewohner stundenweise Unterstützung durch Fachkräfte. „Manche drei, manche zwölf Stunden, immer daran bemessen, was der Mensch in seiner jeweiligen Situation benötigt“, erklärt Astrid Scheliga.

In der Kokobe gibt es neben der persönlichen Beratung und Hilfe bei Antragstellungen auch Wohn-Seminare oder Haushaltsführerschein-Kurse, die auf ein Leben in den eigenen vier Wänden vorbereiten. Und es gibt ehrenamtliche Peer-Berater wie Marco Senska und Rebecca Manderfeld, die eine wichtige Aufgabe in der Kokobe übernehmen.

Die Beratung findet auf Augenhöhe statt

„Die Peer-Beratung ist eine Beratung auf Augenhöhe. Es ist uns wichtig, dass jeder Ratsuchende mit seinem persönlichen Anliegen und Wünschen ernst genommen wird“, sagt Astrid Scheliga, Peer-Koordinatorin der Kokobe. Sie und die anderen beiden Fachkräfte unterstützen das Peer-Team bei ihrer Arbeit.

Tandem-Beratung nennen sie diese Form des Miteinanders, die dann von Bedeutung ist, wenn es um komplexere Sachverhalte wie etwa juristische Fragen geht, bei denen die Ehrenamtler an Grenzen stoßen. Ziel aber soll sein, dass die Peer-Beraterinnen und -Berater in der Zukunft auch ohne das Backup der Sozialarbeiterinnen und -arbeiter Menschen beraten können.

Auch wenn uns manchmal der Kopf qualmt, macht es sehr viel Spaß!
Rebecca Manderfeld über die Peer-Ausbildung beim LVR

Marko Senska und Rebecca Manderfeld besuchen derzeit eine Schulung vom Landschaftsverband Rheinland in Köln, die noch bis Januar dauert. Insgesamt können die Kokokobe-Standorte Euskirchen und Kall auf ein Team von acht Peers zurückgreifen. Und das Angebot wird rege genutzt.

„Ich wünsche mir, dass ich irgendwann alleine beraten werde“, sagt Rebecca Manderfeld. Für ihr eigenes Selbstwertgefühl wäre dieser Schritt von großer Bedeutung. Die 31-Jährige hat bereits alleine gelebt. Dann aber kam Corona. Sie verlor ihren Job und zog daraufhin zurück zu den Eltern und Geschwistern. „Mein Traum war schon immer, mit meiner besten Freundin zusammenzuziehen“, erzählt Manderfeld, die zurzeit eine Ausbildung zur Kita-Assistenzkraft macht.

40 Menschen mit Behinderung sind in der Peer-Ausbildung

So wie es aussieht, wird dieser Wunsch bald in Erfüllung gehen können: Dank einiger engagierter Eltern soll ein geplanter Neubau acht Menschen mit Handicap ein Zuhause bieten. Unter anderem Rebecca Manderfeld und ihrer Freundin.

Die 31-Jährige bedauert bereits, dass die Peer-Ausbildung des LVR, an der 40 Menschen mit Behinderung aus ganz NRW einmal im Monat teilnehmen, Anfang nächsten Jahres beendet ist. „Man lernt dort so viel! Auch wenn uns manchmal der Kopf qualmt, macht es sehr viel Spaß“, so die Peer-Beraterin.

Peers helfen auch Eltern auf dem Weg des Loslassens

Auf dem Stundenplan stehen Info-Einheiten beispielsweise über Teilhabe und Menschenrechte. „Oder wir lernen, welche unterschiedlichen Fragetechniken es gibt“, sagt Manderfeld. In Rollenspielen können sich die Peers dann in ausgedachten Beratungssituationen auf den Einsatz in einer Kokobe vorbereiten.

„Alle Peers haben vielfältige Erfahrungen und sind eine große Bereicherung für unsere Arbeit“, resümiert Tappe. „Auch für Angehörige von Menschen mit Behinderung kann die Beratung auf dem Weg des Loslassens sehr hilfreich sein“, ergänzt ihr Kollege Bosbach.

„Ihr seid Mutmacher für alle, den Schritt in die Selbstständigkeit zu wagen“, sagt Tappe in Richtung der beiden Peer-Berater am Tisch, die sichtlich zufrieden sind mit diesem Feedback.


20 Jahre Koordinierungs-, Kontakt- und Beratungsstelle

Vor 20 Jahren wurde die Kokobe in Trägerschaft der Lebenshilfe-Kreisvereinigung Euskirchen und in Kooperation mit dem LVR-Verbund Heilpädagogischer Hilfen (Gehörlosenheim Euskirchen) ins Leben gerufen.

Mit der Förderung durch den LVR war das Ziel verbunden, dass die Kokobe Menschen – vor allem mit geistigen und komplexen Behinderungen – mit Rat und Tat bei der möglichst selbstbestimmten Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft unterstützt.

Damals lebten nahezu alle Betroffenen in Einrichtungen für Menschen mit Behinderung. Heute wohnen rund 59 Prozent im Kreis Euskirchen mit ambulanter Unterstützung selbstständig. „Durch ihre Aufklärungsarbeit haben die Kokobe-Fachkräfte gemeinsam mit den Kooperationspartnern in den vergangenen 20 Jahren aktiv diese Entwicklung unterstützt“, sagt Christian Meyer, Geschäftsführer der Lebenshilfe-Kreisvereinigung Euskirchen.

Die Kokobe ist rheinlandweit vertreten und hat Standorte in Euskirchen und Kall. Zu den Angeboten gehört neben der Beratung auch der regelmäßig erstellte Terminkalender „Gemeinsam“ mit zahlreichen Freizeitangeboten im Kreis Euskirchen für Menschen mit Behinderung. Diese reichen von Ausflügen, Sport- und Bewegungsangeboten über eine Lese-Schreib-Werkstatt, einen inklusiven Zumba-Kurs und Konzertbesuchen bis hin zur Halloween-Party.