Flut und AusbildungKreis braucht viel Solidarität und individuelle Lösungen
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Kreis Euskirchen – Gemeinsam mit den Eltern Flutopfer und Helfer versorgen, Kaffee ausschenken, Brötchen schmieren, fremde Handys laden. Und danach das zerstörte Café seiner Eltern wieder aufbauen. All das sind wohl keine üblichen Inhalte einer Kochausbildung. Genau das hat der 18-jährige Jaron Lies, Koch-Azubi im dritten Lehrjahr, aber in den letzten Wochen in seinem Ausbildungsbetrieb Café Alter Markt getan. Bis vor kurzem, denn nun steht er im Parkhotel Euskirchen hinter dem Herd.
„Nachdem durch die Katastrophe das Café meiner Eltern zerstört wurde, hat mich nach einiger Zeit mein Berufsschullehrer darauf aufmerksam gemacht, dass ich meine Ausbildung erstmal woanders fortsetzen könne“, erzählt Jaron. Die ersten Wochen habe er natürlich anderes im Kopf gehabt, da hatte es nur geheißen: Anpacken, die Eltern und die anderen Betroffenen unterstützen. Aber die Abschlussprüfung nächstes Jahr habe er nicht vergessen. „Mein Berufsschullehrer hat mir dann das Parkhotel empfohlen. Da habe ich mich vorgestellt“, erzählt er.
In der aktuellen Zeit müssen individuelle Lösungen her
Für den selbst noch neuen Küchenchef im Parkhotel, Patrick Oertel, sei sofort klar gewesen, dass man den Azubi unterstützen müsse: „Mein erster Gedanke war, was ein armer Kerl. Natürlich wollten wir da helfen, damit er auch die Prüfung ohne Verzögerung ablegen kann.“
Dass es überhaupt möglich ist, Auszubildende ohne großen bürokratischen Aufwand übergangsweise in anderen Betrieben aufzunehmen, ist auch der Industrie- und Handelskammer Aachen (IHK) zu verdanken. Die hat nämlich einen Kooperationsvertrag erstellt, der eine solche temporäre Übernahme regelt. Auch im Falle von Jaron sei der zum Einsatz gekommen.
In der aktuellen Lage seien individuelle Lösungen gefragt, erklärt Mathias Fuchs von der IHK Aachen. Das Vorziehen des schulischen Teils der Ausbildung, eine temporäre Unterbringung in einem anderen Betrieb oder gar die Umstellung auf eine andere Fachrichtung – die Ausbildungsbetriebe hätten sich diverse Lösungen überlegt, um ihren Lehrlingen die Fortsetzung der Ausbildung zu ermöglichen. „Das liegt auch an dem überwältigenden Zusammenhalt innerhalb der lokalen Wirtschaft und unter den Betroffenen“, bemerkt Fuchs. Deshalb stehe aktuell kein Azubi vor dem Nichts, ganz im Gegenteil: „Nach wie vor suchen die Betriebe händeringend nach Lehrlingen. Vielen ist nicht bewusst, dass man sich weiterhin bewerben kann“, sagt er.
Es gibt viele vakante Ausbildungsstellen, ein Wechsel ist also meist möglich
Tatsächlich haben sich Fuchs zufolge lediglich drei oder vier Auszubildende bei der IHK gemeldet, weil sie ihre Lehre nicht antreten konnten aufgrund der Flut. „Aber auch die haben schnell etwas anderes gefunden, da es einfach so viele vakante Ausbildungsstellen gibt“, so Fuchs.
Individuelle Lösungen für ihre fünf Azubis hat auch die Werkzeugfertigung Sieber Forming Solutions in Eicherscheid gefunden. „Unsere Auszubildenden helfen teils vor Ort, um etwa Maschinen zu retten. Teils reisen sie aber auch nach Henstedt-Ulzburg bei Hamburg, um in unserem anderen Werk zu arbeiten“, erklärt Alexandra Müller-Eheim von der Geschäftsverwaltung.
Aktuelle Ausbildungsplätze
Noch immer sind 250 von 670 gemeldeten Ausbildungsplätzen im Kreis unbesetzt und das trotz betroffener Betriebe durch die Flut. Vor allem die Baubranche suche noch nach neuen Azubis, teilte die IG Bau mit. Interessierte können sich auch nach dem offiziellen Ausbildungsstart bewerben.
In ein paar Jahren drohe der Fachkräftemangel, so der Bezirksvorsitzende der Gewerkschaft in Aachen, Uwe Brell. Dabei locke vor allem in der Baubranche gute Bezahlung für Auszubildende – bis zu 1495 Euro im dritten Lehrjahr. Um die Arbeitsbedingungen weiter zu verbessern, fordert die IG Bau in der laufenden Tarifrunde eine Entschädigung der Wegezeiten, 5,3 Prozent mehr Einkommen und die Angleichung der Ost- an die Westlöhne. (enp)
Die Firma hat es besonders schlimm getroffen: „Unseren Betrieb werden wir so, wie er war, an diesem Standort vermutlich nicht wieder aufbauen“, erklärt sie. Mehrere Gebäude auf dem Betriebsgelände seien zerstört worden und der Rest, der noch stehe, teils stark einsturzgefährdet. „Unsere Firmenhallen sind die ersten Gebäude hinter dem Rückhaltebecken.“ Die Erft laufe unter dem Gelände hindurch – entsprechend verheerend wütete die Flut dort.
Einer der Azubis im Betrieb stehe kurz vor dem Abschluss, erzählt Müller-Eheim. Er habe kurzerhand den Fachbereich seiner Lehre zum Zerspanungsmechaniker gewechselt. „Der junge Mann wollte eigentlich Zerspanungsmechaniker Fachrichtung Schleiftechnik werden. Das ist aber eine relativ seltene Ausrichtung im Bereich der IHK Aachen, und unsere Produktion in diesem Bereich wurde zerstört. Deshalb hat der Azubi dann auf Drehtechnik umgesattelt, damit er die Abschlussprüfung ohne Probleme ablegen kann“, so Müller-Eheim.
„Bei uns wurde der halbe Schulhof weggeschwemmt“, die Berufskollege im Kreis brauchen auch Hilfe
Die Solidarität unter allen Betroffenen sei aktuell immer noch groß, sagt sie. „Tatsächlich haben wir einen Auszubildenden, der erst kurz nach der Katastrophe bei uns angefangen hat. Als wir nach einer Übergangslösung für ihn gesucht haben, hieß es sofort, dass er bleiben und beim Wiederaufbau der Firma helfen will.“ Für ihn habe man eine Kooperation mit dem Berufsbildungszentrum Euskirchen (BZE) arrangieren können.
„Unser Azubi wird in den nächsten Wochen über den regulären Unterricht hinaus am BZE beschult“, sagt Müller-Eheim. Dabei sei das Berufsbildungszentrum selbst durch die Flut getroffen.
Und damit nicht genug: Auch die beiden Berufsschulen im Kreis sind gerade auf die Solidarität anderer angewiesen. Sowohl das Berufskolleg Eifel in Kall als auch das Thomas-Eßer-Berufskolleg verzeichnen so starke Beschädigungen durch das Hochwasser, dass die Berufsschulklassen in externe Räumlichkeiten verlegt wurden. „Bei uns wurde der halbe Schulhof weggeschwemmt“, berichtet Holger Mohr vom Berufskolleg Eifel. Außerdem seien die Räumlichkeiten im Erdgeschoss zerstört. „Gerade werden die betroffenen Räume entkernt und saniert. Wir hoffen, dass wir nach den Herbstferien zumindest wieder die oberen Etagen nutzen können“, sagt er. Für das Thomas-Eßer-Berufskolleg kann der Träger, der Kreis Euskirchen, laut Sprecher Sven Gnädig noch keine Angaben darüber machen, wann die Schüler wieder in ihre alten Räumlichkeiten einziehen können.
Für Jaron hat sich die Ausbildungssituation teilwweise sogar verbessert
Auch Online-Unterricht ist eine Alternative: „Ich habe jede Woche dienstags Unterricht per Online-Konferenz“, erzählt Jaron. Zudem könne er jede zweite Woche im Franziskus-Haus in Schleiden seinen praktischen Kochunterricht wahrnehmen. Tatsächlich habe sich seine Ausbildungssituation jetzt sogar verbessert, sagt der 18-Jährige: „Als es durch Corona so viele Beschränkungen gab, hatte ich gar keine Schule mehr vor Ort. Das fand ich fast noch belastender.“ Zudem habe er im elterlichen Betrieb durch die Auflagen wenig Abwechslung im Küchenalltag erlebt. Umso mehr freue er sich nun, in der großen Küche des Parkhotels zu kochen: „Das wird vermutlich auch erst einmal eine Umstellung. Aber ich freue mich auf die Herausforderung und die Chance, etwas Neues zu lernen.“
Ersatzunterricht an Berufsschulen
Berufsschüler des Berufskollegs Eifel werden aktuell an der Gesamtschule Mechernich, im Gymnasium am Turmhof und in der Gesamtschule Eifel in Blankenheim unterrichtet, da die Räumlichkeiten des Kollegs durch das Hochwasser zerstört wurden.
In der Hauptschule Zülpich, im Franken-Gymnasium und in der Gesamtschule Weilerswist hat das Thomas-Eßer- Berufskolleg Berufsschüler einquartiert. Zudem nutzt die Fachschule für Wirtschaft einmal pro Woche das Bethaus der Christlichen Gemeinde in Euskirchen. Zwei weitere Klassen von Kfz-Mechatronik-Azubis werden in der Fahrschule „Cool2drive“ unterrichtet, die Tischler-Oberstufe nutzt derzeit Räumlichkeiten der Schreinerei Lehser. (enp)
Die Arbeit in einer Restaurant-Küche unterscheide sich von der in einem Café unter anderem durch andere Strukturen und Abläufe, erklärt Küchenchef Oertel. Dass Jaron durch die Flut und den Wiederaufbau ab und zu anderes als das perfekte Filetieren von Fisch im Kopf hat, sei auch schon eingeplant. „Wir fangen langsam an, und ich schaue mal, was er kann“, so Oertel, und der Azubi ergänzt: „Ich helfe auch noch zu Hause bei den Baumaßnahmen mit. Das werde ich jetzt auch ein wenig reduzieren, um mich besser auf die Arbeit zu konzentrieren.“
Ursprünglich habe Jaron gar nicht geplant, Koch zu werden. „Die Realschule hat damals Druck gemacht, dass ich eine Ausbildung anfangen muss. Mein Vater hat dann gesagt, dass ich erst einmal im Café anfangen soll, um mir dann etwas anderes zu suchen.“ Schon nach kurzer Zeit habe er aber gemerkt, wie gut ihm der Job gefalle. Mit dem teils rauen Ton in der Küche kommt Jaron laut eigener Aussage auch bestens zurecht: „Manchmal hat es zwischen mir und meinem Vater auch geknallt in der Küche. Aber das ist dann etwas Berufliches, wir können das vom Privaten trennen.“
Auf Jarons Mithilfe freut sich auch Hoteldirektor Stefan Bernstein. „Aktuell ist es immer noch so, dass es eher zu wenig Azubis gibt“, sagt er. Auch deshalb sei es kein Problem gewesen, Jaron so schnell zu übernehmen.
Obwohl Mathias Fuchs von der IHK-Ausbildungsberatung das bestätigen kann, verzeichnet die Handwerkskammer Aachen (HWK) ein Plus von 4,4 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. 2903 Ausbildungen im Kammerbezirk Aachen, zu dem auch der Kreis Euskirchen zählt, seien in dieser Saison begonnen worden. Dennoch sei das nach wie vor zu wenig, sagt Fuchs.