Unvergesslich: „Eine Mannschaft, die Eier hatte"Denkwürdige Partie in Nierfeld
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Schleiden-Nierfeld – Zu einer Zeit, als die Einweihung der Kunstrasenanlage in der Gemünder Kloska-Arena - der Heimstätte des SV SW Nierfeld - noch knapp ein Jahr entfernt war, ereignete sich an gleicher Stätte eines der denkwürdigsten Fußballspiele der Vereinsgeschichte.
Im Jahr 2009 spielten die Gastgeber in der Landesliga. Wenn die Witterungsbedingungen gut waren, trat das Team von Trainer Achim Züll zu Hause auf einem mehr mit einer herkömmlichen Wiese als mit einem Rasenteppich vergleichbaren Geläuf an. Nur in Ausnahmefällen wich die Elf auf den direkt daneben liegenden Aschenplatz aus, der nicht nur riesengroß, sondern auch äußerst schlecht beleuchtet war und bei starken Regenfällen ziemlich schnell unter Wasser stand.
Kurz gesagt: äußere Bedingungen, auf die man unter normalen Umständen als Fußballspieler gerne verzichtet. An diesem speziellen Abend im November allerdings waren Pfützen und schwaches Flutlicht genau das, was die Nierfelder für eine kleine sportliche Sensation benötigten. Der SV Nierfeld hatte - als amtierender Kreispokalsieger – in der ersten Runde des Verbandscups den Lokalrivalen Euskirchener TSC im Erftstadion mit 3:2 bezwungen und bekam nun vor heimischem Publikum den NRW-Ligisten SC Fortuna Köln zugelost - viel attraktiver ging es kaum.
Obwohl die Partie an einem trüben Mittwoch im Spätherbst ausgetragen wurde und die Temperaturen wenig einladend waren, strömten die Zuschauer in Scharen aufs Vereinsgelände. "Das Wetter war schlecht, es hatte den ganzen Tag geregnet und trotzdem waren über 1000 Zuschauer da", erinnert sich Achim Züll, der schon ein paar Stunden vor dem Anpfiff "gewisse Vorteile für einen Underdog" ausgemacht hatte.
Um diese noch ein wenig zu vergrößern, griffen die Gastgeber auf einen bereits früher praktizierten Schachzug zurück: Sie verkleinerten das Spielfeld in der Breite auf das Mindestmaß, um den Kölnern das Leben zusätzlich schwer zu machen. „Der Abstand zwischen den Seitenlinien war ungefähr genauso groß wie auf dem heutigen Kunstrasenplatz. Wir hatten die Fortuna vorher beobachtet und wussten, dass sie starke Außenbahnspieler in ihren Reihen haben, die wir auf einem schmalen Spielfeld besser kontrollieren können“, erklärt Züll.
Aschenplatz total matschig
Innenverteidiger Dominik Peiffer ergänzt: „Der Aschenplatz war matschig ohne Ende. Uns war völlig klar, dass Fortuna Köln unter diesen Umständen keinen Spaß haben würde.“ Hinzu kam, dass der Gegner aus der Südstadt damals in der Meisterschaft nicht in Topform war und unter dem Druck stand, sich gegen den unbekannten Landesligisten aus der Eifel ein Erfolgserlebnis sichern zu müssen.
Schachzug
Um gegen den NRW-Ligisten SC Fortuna Köln eine kleine Chance zu haben, mussten sich die Nierfelder etwas einfallen lassen. Auf die äußeren Bedingungen sollte es unter Umständen ankommen.
Die Nierfelder wichen auf den eigentlich ungeliebten Aschenplatz aus. Allerdings waren Pfützen und schwaches Flutlicht genau das, was die Nierfelder benötigen, um eine kleine sportliche Sensation in die Tat umzusetzen.
Außerdem verkleinerten sie das Spielfeld in der Breite auf das Mindestmaß, um den Kölnern das Leben zusätzlich schwer zu machen. So hatte die Truppe von Achim Züll die starken Kölner Außenbahnspieler besser unter Kontrolle. Dieser Plan ging dann auch auf. (bra)
All diese Dinge hätten allerdings nicht ausgereicht, wenn die Nierfelder lediglich eine durchschnittliche Leistung in die Waagschale geworfen hätten. Doch sie taten weit mehr als das, da der Reiz, den haushohen Favoriten aus dem Wettbewerb zu befördern, zusätzliche Kräfte mobilisierte.
„Die Begegnung war das Highlight der Saison für uns, der Trainer musste uns gar nicht groß motivieren“, bekräftigt Peiffer, der weiß, warum das Pendel letztlich zu Gunsten seiner Mannschaft ausschlug: „Wir haben die paar Prozent mehr auf den Untergrund gebracht, die dem Kontrahenten unter dem Strich gefehlt haben.“
Etwas anders formuliert Züll den Siegeswillen seiner damaligen Truppe, in der neben Routiniers wie Dirk Scheer oder Marco Hackenbroich ein Youngster namens Florian Dederichs und die Brüder Bernd und Michael Jansen standen. „Das war eine Mannschaft, die Eier hatte. Wir waren heiß und wollten ein Fußballfest feiern, alles hat zu 100 Prozent gepasst“, schwärmt Achim Züll von seinem damaligen Kader. Nach dem Anstoß war schnell zu erkennen, dass das Team von Fortuna-Trainer Matthias Mink mit der ebenso defensiven wie kampfstarken Spielweise der Schwarz-Weißen Probleme hatte - trotz Feldüberlegenheit waren die Gäste nicht in der Lage, sich klare Chancen zu erarbeiten.
"Nach etwa 30 Minuten haben wir gemerkt: Die überrennen uns nicht, denn Ballbesitz alleine schießt keine Tore", schildert Züll seine Eindrücke. Bis zur Pause verteidigte die Heimelf bravourös das 0:0. Während der NRW-Ligist nach dem Seitenwechsel immer mehr den Faden verlor, suchte der SVN plötzlich auch sein Heil in der Offensive. „Wir haben mutiger gespielt, als man das im Vorfeld erwartet hatte. Dagegen bekam ich im ganzen Spiel, von fünf bis sechs Aktionen abgesehen, gar nicht viel zu tun“, resümiert Torwart Dirk Scheer, dessen Stunde erst später schlagen sollte.
Rawicki übernimmt die Regie
Zunächst übernahm Paul Rawicki die Regie: Nach einer Flanke hatte der Linksverteidiger genügend Zeit, sich den Ball am zweiten Pfosten zurechtzulegen und ihn dann unhaltbar in den Winkel zu dreschen (55.). Spätestens da war der Pokal-Coup zum Greifen nahe, doch ganz so leicht gaben sich die Gäste nicht geschlagen. 14 Minuten vor Schluss reagierte Stürmer Hamdi Dahmani bei einer hohen Hereingabe am schnellsten und köpfte zum Ausgleich ein - die Blamage für die Kölner war (zunächst) abgewendet. Sekunden vor dem Abpfiff wäre der schwache Auftritt der letzten 90 Minuten beinahe ganz vergessen gewesen, wenn Cengiz Can in einer Überzahlsituation der Ball nicht im allerletzten Moment von Florian Dederichs noch weggespitzelt worden wäre.
„Das war eine hundertprozentige Chance, bei der ich uns schon als späten Verlierer gesehen habe“, rekapituliert Nierfelds Geschäftsführer Dr. Norbert Toporowsky. Dank der famosen Rettungsaktion ging es stattdessen in die Verlängerung, die nur als weitgehend ereignislose Übergangsphase für den Gipfel der Spannung diente: das Elfmeterschießen.
Das zuvor in der Kabine von Züll herausgeholte Plakat mit dem Satz „Ihr könnt nicht mehr verlieren“, der als kleine Motivationsspritze gedachte Soundtrack des Boxerfilms „Rocky“ vor dem Anpfiff, die zahlreichen erwartungsvollen Zuschauer - dies alles war jetzt Makulatur. Nun kam es einzig und allein darauf an, wie gut die Nierfelder Schützen ihre Nerven in den Griff bekamen.
Scheer wird zum Pokalhelden
Der Torschütze Paul Rawicki machte den Anfang und brachte seine Mannschaft in Führung. Dann lief der erste SC-Akteur Daniel Blankenheim an – und scheiterte kläglich an Dirk Scheer. „Ein ganz bitterer Moment für die Kölner, weil ich den Schuss sogar noch festgehalten habe", erinnert sich der Schlussmann, der mit dieser einen Parade neben Rawicki zum Pokalhelden avancierte. Denn alle weiteren Akteure auf beiden Seiten verwandelten, bis René Löher den Ball mit voller Wucht in die Maschen hämmerte und damit die Entscheidung herbeiführte. Danach herrschte nichts außer Jubel, Trubel, Heiserkeit. „Wahnsinn, so etwas erlebt man als Spieler nur ein oder zwei Mal in seiner Laufbahn. Für solche Momente spielst du Fußball“, weiß Keeper Scheer.
An die Feier im Vereinslokal Dahmen hat der Torhüter keine genauen Erinnerungen mehr. Nur eine Sache sei im Gedächtnis geblieben: „Als ich nach Hause gegangen bin, war es draußen schon hell.“ Sein Teamkollege Dominik Peiffer pflichtet ihm bei: „Wir sind unserer Linie treu geblieben und haben auch beim Feiern alles rausgeholt.“
SV Nierfeld: Scheer, Löher, Dederichs, Peiffer, Hackenbroich, Winkler, Müller (53. B. Jansen), Rawicki, Kotter, Kuzmanovic (101. Timm), M. Jansen.