Im März 1945 rücken amerikanische Soldaten auf die Universitätsstadt Bonn vor.
Zerstörung und Einzelschicksale: Ein Rückblick in diese Zeit.
Bonn – Noch 25 Kilometer bis Bonn zeigt ein Wegweiser, den amerikanische Soldaten passieren, als sie im März 1945 auf die Universitätsstadt am Rhein vorrücken. Sie gehören zum 23. Regiment der 2. Infanteriedivision. Am 4. März wird Rheinbach fast kampflos genommen, am 6. März Alfter und Mechernich. Kriegsberichterstatter filmen Zivilisten, wie sie Baumstämme wegrollen, die als Panzersperren auf die Straße geworfen worden waren. Kurz zuvor ist Meckenheim durch heftigen Beschuss schwer zerstört worden. Am 7. März sind die Truppen der 1. US-Armee in Brühl, der Westflügel des kurfürstlichen Schlosses erhält durch Artilleriebeschuss einen Volltreffer.
Am gleichen Tag gelingt den amerikanischen Soldaten ein Erfolg, der in die Kriegsgeschichte eingehen wird: Die 9. Amerikanische Panzerdivision erobert die Ludendorff-Brücke zwischen Remagen und Erpel (siehe Seite 36), der Rhein ist nun keine Frontlinie mehr. Fünf US-Divisionen werden auf die rechtsrheinische Seite gebracht, dazu Tonnen von Material.
Karl Franz Chudoba
Zur gleichen Zeit sitzt Karl Franz Chudoba auf der Burg der Freiherren von Adelebsen, 18 Kilometer von Göttingen entfernt, und versucht, von dort aus die Universität Bonn zu leiten. Der Mineraloge Chudoba, geboren 1898, ein strammer Nazi, war seit November 1939 Rektor der Hochschule und hatte sich Anfang 1945 vor den anrückenden Alliierten mit einigen Professoren in die niedersächsische Stadt abgesetzt. Seine Kollegen richteten sich in der Uni Göttingen ein und versuchten von dort aus, den daheim gebliebenen Kollegen ihre Gehälter zu überweisen.
Chudoba aber baut sich in der Burg ein autarkes Rektorat mit eigener Verwaltung auf, selbst ein Studentensekretariat gibt es. Chudoba und seine Frau Lotte leben in einem 32 Quadratmeter großen Zimmer neben einer Abstellkammer. Der als Mineraloge berühmte Wissenschaftler befand sich „in einer Art Parallel-Welt“, urteilte der Historiker Philip Rosin in seinem Buch über die Geschichte der Universität, die Szene in Göttingen sei „surreal“ gewesen.
Rosi Gollmann
Während Magnifizenz noch an den Endsieg glaubt, kehrt die damals 18 Jahre alte Rosi Gollmann aus Altenstadt in Oberbayern, wohin sie ihren kranken Vater vor den Bomben in Sicherheit gebracht hatte, in ihre Heimatstadt Bonn zurück. „Die Liebe zu Bonn und mein Heimweh ließen mir keinen Frieden. Wider alle Vernunft beschloss ich, nochmals hinzufahren“, notiert sie in ihren Lebenserinnerungen. Doch sie kann in diesen Märztagen des Jahres 1945 nur eine Nacht im elterlichen Haus bleiben, wo sie im Keller schläft: „Die Alliierten lagen direkt vor der Stadt, jeden Augenblick konnte Bonn in ihre Hände fallen“. Gollmann packt einen Koffer und einen Rucksack und bricht wieder auf. Sie fährt mit einem Militärauto über die Rheinbrücke nach Beuel und dann weiter via Koblenz nach Bayern. Gerade noch rechtzeitig. Am 8. März gegen 20.20 Uhr befiehlt ein deutscher Offizier die Sprengung der Brücke.
Am Morgen dieses Tages haben die Amerikaner Bad Godesberg erreicht, es gibt einen kurzen Feuerwechsel, dann fordern die US-Truppen telefonisch vom Ortskommandanten Generalleutnant Richard Schimpf die Kapitulation der Stadt. Der Schweizer Generalkonsul Dr. Franz Rudolph von Weiss vermittelt erfolgreich zwischen beiden Seiten: Schimpf übergibt mit Stadtrat Heinrich Ditz um 13.30 Uhr die Stadt an die Sieger und geht in Gefangenschaft. Überall werden weiße Fahnen gehisst oder Bettlaken aus Fenstern gehängt, Zivilisten müssen ihre Waffen abgeben, ein älterer Herr bringt der Polizei einen Säbel: „Professor, was wolltest Du damit?“, fragt in einem Wochenschaufilm eine Stimme aus dem Off.
Flucht und Ausgangssperre
Während auf der anderen Rheinseite noch geschossen wird und auf einem Gehöft in Unkel ein Gefreiter namens Joachim Fest in US-Gefangenschaft gerät, normalisiert sich das Leben in Godesberg schnell: Bereits am Nachmittag des 8. März flanieren Männer und Frauen wieder über die Koblenzer Straße, die Geschäfte bleiben offen bis zur abendlichen Ausgangssperre.
Die kleine Stadt ist voller Kriegsberichterstatter, die die US-Armee beim Vormarsch begleiten. Denn Godesberg gilt ihnen als geschichtsträchtiger Ort: Hier, im Rheinhotel Dreesen, empfing Adolf Hitler 1938 den englischen Premierminister Neville Chamberlain zu Verhandlungen über die Sudetenfrage, die zur Besetzung der Tschechoslowakei und letztlich in den Zweiten Weltkrieg führte. So filmen und knipsen die Kameraleute und Fotografen Soldaten, wie sie stolz durch die Nobelherberge spazieren, in Polstersesseln sitzen oder auf dem Rasen Baseball spielen. „Bad Godesberg . . . ist wie die Stadt Brühl sehr Nazi.
Reiche pensionierte Villenbesitzer, konservative Pensionsbetreiber, erfolgreiche Angehörige der Mittelklasse und starrköpfige Wertpapierbesitzer hatten ein Interesse daran, eine Partei zu unterstützen, die ihnen Sicherheit versprach“, berichtet die mit den Truppen reisende Reporterin Lee Miller den Leserinnen der Zeitschrift „Vogue“.
Unterdessen rücken vier Bataillone des 16. und 18. Infanterieregiments am gleichen Tag auf Bonn zu. Der Angriff auf die zur Festung erklärten Stadt, in der sich noch etwa 40 000 Zivilisten und knapp 4000 Soldaten aufhalten, beginnt in den Morgenstunden. Generalmajor Richard von Bothmer, der Kommandant der „Festung“, ignoriert Hitlers Befehl, Bonn „bis auf den letzten Mann“ zu verteidigen und zieht sich am Abend mit seinen Truppen über den Rhein nach Beuel zurück. Die Brücke lässt er in die Luft jagen. Zwei Tage später wird der Offizier verhaftet und vor ein Kriegsgericht gestellt. Der Vorwurf: „Pflichtverletzung“, weil er Bonn aufgegeben habe. Er soll während des Prozesses die Pistole eines Bewachers an sich gerissen und sich damit erschossen haben. Von Bothmer wurde auf dem Hennefer Friedhof begraben.
Ludwig Rickert
Mit den fliehenden Truppen setzt sich auch Ludwig Rickert, seit 1933 Nazi-Oberbürgermeister der Stadt, ins Rechtsrheinische ab. Am 9. März wird Bonn kampflos besetzt, um 9 Uhr übergibt Rechtsrat Dr. Max Horster die Stadt an die Amerikaner. Weil die Kriegsberichterstatter alle in Bad Godesberg sind, gibt es von dieser Szene kein Foto. Bilder von Soldaten in der Friedrichstraße, die, das Gewehr im Anschlag, an der mit einem Tuch abgedeckten Leiche eines Deutschen vorbeigehen, neben der ein Stahlhelm liegt, oder von Private First Class (Gefreiter) William Cooper, der vor dem Beethoven-Denkmal auf dem Münsterplatz posiert, sind nachgestellt worden.
Der kommandierende US-Offizier scheint zumindest einen gebürtigen Bonner zu kennen: „Steht das Beethoven-Haus noch?“, lautet seine überlieferte Frage an Vertreter der Stadt. Es steht noch. Bei dem Bombenangriff vom 18. Oktober 1944 sicherte Kastellan Heinrich Hasselbach das Geburtshaus des Komponisten vor Flammen, das Inventar war nach Schloss Homburg bei Nümbrecht und in einen Stollen bei Siegen ausgelagert worden und wurde ab dem 11. Mai 1945 mit amerikanischer Hilfe zurückgeführt. Das Stadtarchiv bewahrt ein Foto auf, wie ein Soldat das zwar beschädigte, aber weitgehend erhaltene historische Monument betrachtet.
Ansonsten sieht es in Bonn schlimm aus. Jedes fünfte Wohnhaus war zerstört, sieben von zehn beschädigt, öffentliche Gebäude wie die Universität, die Uni-Klinik in der Nordstadt, das Münster, die Kreuzkirche oder das Rathaus ausgebrannt. Der Stadtkern bleibt noch lange ein Trümmerfeld.
Der frühere Uni-Rektor Karl F. Chudoba wurde nach dem Krieg als „Professor zur Wiederverwendung“ eingesetzt und 1966 emeritiert. Er starb 1976 in Göttingen. Nazi-Oberbürgermeister Ludwig Rickert kam 1945 in Internierungshaft, Verfahren wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit wurden mangels Beweisen eingestellt. Rickert arbeitete als Handelslehrer und starb 1963.
Generalleutnant Richard Schimpf (1897-1972) war bis 1947 in Gefangenschaft, 1957 trat er in die Bundeswehr ein, wo er 1962 als Generalmajor in den Ruhestand trat. Generalkonsul von Weiss (1885-1960), ein Freund des ersten Bundeskanzlers Konrad Adenauer, hoffte, erster Schweizer Botschafter in der Bundesrepublik zu werden, doch sein Außenministerium berief den 60-Jährigen ab.
Rosi Gollmann, geboren 1927, wurde nach ihrer Flucht nach Bayern kurzzeitig Sekretärin von Franz Josef Strauß, dem späteren Verteidigungsminister und bayerischen Ministerpräsidenten, der nach Kriegsende zum Landrat von Schongau ernannt worden war. In Bonn gründete die Lehrerin 1967 die Andheri-Hilfe, die auf Tausende von Projekten in der Armutsbekämpfung in Indien und Bangladesch zurückblicken kann.
Joachim Fest, Jahrgang 1926, der in Unkel in Gefangenschaft geratene Gefreite, war ab 1963 Chefredakteur des NDR und von 1973 bis 1993 Herausgeber der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“. Er verfasste unter anderem eine große Hitler-Biografie und den auch verfilmten Bestseller „Der Untergang“ über die letzten Tage der Reichskanzlei. Joachim Fest starb 2006. (dbr)
Karl Franz Chudoba hält sich derweil immer noch auf Burg Adelebsen im Landkreis Göttingen auf und wähnt sich als Rektor der Bonner Universität, ehe er am 8. April von Amerikanern als NS-Funktionär verhaftet wird. Seine Frau Lotte ernennt sich daraufhin kurzer Hand selbst zur Rektorin, bis auch ihr ein paar Tage später von einem Abgesandten aus Bonn klar gemacht wird, dass sie nichts mehr zu sagen hat.